Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
unmittelbarer Umgebung des Hotels gab es nichts zu sehen. Er wandte sich nach rechts und folgte der Avenue Brugmann, offenbar jene Straße, die er schon am ersten Abend bei Dunkelheit abgegangen war. Er kam an einem polnischen Lebensmittelladen, einem thailändischen Schnellrestaurant, einem Sushi-Imbiss und einem Café vorüber, das Gerichte von der Elfenbeinküste auf der Karte hatte. Die Straße schien auch bei Tageslicht nirgendwohin zu führen. Die zentralen Alleen waren einfach nicht zu finden. Auch die Schlösser nicht, von denen er ohnehin schon Bilder auf Wikipedia gesehen hatte, oder die Parks, die angeblich im Frühling in voller Blüte standen.
Seine Füße taten weh vom vielen Laufen, und seine Hosenbeine waren vom Regen durchnässt. Die meiste Zeit hielt er die Karte, die man ihm im Hotel gegeben hatte, verkehrt herum. Es regnete ohne Unterlass, aber er wollte kein Taxi anhalten, weil er davon ausging, dass er noch auf eigene Kosten zum Flughafen gelangen musste.
Am frühen Nachmittag fand er sich in einem Gewirr steil ansteigender, schmaler und heruntergekommener Straßen wieder, passierte Wohnblöcke und begegnete alten südeuropäisch aussehenden Männern. Unbeabsichtigt war er in das Rotlichtviertel von Brüssel geraten, das sich zu seinem Erstaunen genau zu Füßen der blitzenden Wolkenkratzer erstreckte, in denen die Behörden des Europäischen Parlaments residierten.
Gegen seinen Willen hatte es ihn in die Rue de la Prairie gezogen. Wie Jean-Marc. In den Fenstern, hinter schmutzigen, halb geöffneten Vorhängen saßen dunkelhäutige Frauen. Junge, füllige, schöne Frauen. In schwarzen Dessous mit rosafarbenen Chiffonschals um den Hals. Sie lächelten ihm zu. Aus der Tür eines der Häuser trat ein Freier. Um die sechzig, unrasiert. Er zählte das Geld in seinem Portemonnaie nach.
Avraham Avraham ging schneller und sah zu, dass er wegkam. Er fand zurück zu einer Straße, die wie eine der Hauptstraßen aussah, und landete abermals in einer Filiale von Subway. Als er dort saß, rief Maalul an und teilte ihm mit, dass Ofers Rucksack gefunden worden war. Genau zwei Wochen nach Aufnahme der Ermittlungen.
Maalul war aufgekratzt. »Endlich haben wir etwas Greifbares in der Hand, Avi«, rief er.
Den schwarzen Rucksack hatte ein Bauunternehmer beim Revier an der Dizengoff in Tel Aviv abgeliefert. Er hatte in einem Container gelegen, in dem der Unternehmer Schutt aus einer Wohnung entsorgte, die er am Chil Boulevard renovierte, nicht weit von der Basketballarena Yad Eliyahu entfernt. Der Mann konnte es nicht leiden, wenn Anwohner ihren Müll in den Container warfen, der so im Nu voll war, und jeder Container kostete ihn Geld. Außerdem musste er Strafgebühren zahlen, wenn er seinen Schutt auf der Halde ablieferte und sich Gegenstände im Container fanden, die erkennbar kein Bauschutt waren. Also hatte er ein Stück Pappe an dem Container befestigt und mit Filzstift » PRIVAT « darauf geschrieben. Aber das hatte nichts geholfen. Am Morgen hatte er unter Ziegelbruch und leeren Zementsäcken den schwarzen Rucksack entdeckt. Er wollte ihn in die hauseigene Mülltonne werfen, doch als er ihn herausgezogen hatte, sei ihm aufgrund des Gewichts klargeworden, dass der Rucksack gefüllt war. Ohne zweimal nachzudenken habe er ihn geöffnet. Darin lagen Bücher und Hefte. In einem der Fächer habe er Ofer Sharabis Personalausweis gefunden und sich an den Namen und das Bild des Jungen aus den Nachrichten erinnert. Der Rucksack konnte nicht länger als drei Tage in dem Container gelegen haben, denn der war am Montag zuletzt geleert worden.
Avraham Avraham hatte sein Sandwich auf den Tisch gelegt und lauschte Maalul. Als der geendet hatte, sagte er: »Also hat jemand den Rucksack diese Woche reingeworfen, irgendwann zwischen Montag und heute.«
»Höchstwahrscheinlich am Montag oder am Dienstag«, erwiderte Maalul. »Der Rucksack hat ein bisschen was abgekriegt und ist voller Sand und Staub. Obwohl der Baumensch ihn kräftig abgeklopft hat.«
»Was für ein Idiot«, entfuhr es Avraham Avraham. »Ofer kann ihn selbst hineingeworfen haben – oder ein anderer«, fügte er hinzu.
Er wollte den Rucksack in der Hand halten. Ihn drehen und wenden. Ihn aufmachen und hineinschauen. Die Bücher und Hefte einzeln herausholen.
»Wieso Ofer?«, fragte Maalul. »Er läuft zwei Wochen mit dem Ding durch die Gegend, ohne dass ihn jemand sieht, und dann will er es plötzlich loswerden? Und bis jetzt hat er die Bücher und
Weitere Kostenlose Bücher