Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Kriminaltechnischen Untersuchung eingetroffen sein müsste und sie ihn dort erst einmal liegenlassen würden, vielleicht ja sogar das ganze Wochenende über. Hoffte er etwa insgeheim, dass sie ihn sich erst zu Wochenbeginn vornehmen würden, wenn er wieder in Israel wäre?
Er nahm ein Taxi zurück ins Hotel. Dort versuchte er, die Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchung zu erreichen, um sicherzustellen, dass der Rucksack im Labor nicht nur auf Fingerabdrücke, sondern auch auf Fasern und Polymere untersucht würde, um zu überprüfen, ob daran oder darin fremde Materialien hafteten.
»Wovon redest du überhaupt? Was für ein Rucksack denn?«, brummte die Sekretärin in der Asservatenregistratur.
Er gab ihr seine Nummer im Hotel. Öffnete das Zimmerfenster und rauchte, trotz Verbot, gierig mehrere Zigaretten hintereinander.
Danach versuchte er, Schärfstein zu erreichen, doch ohne Erfolg.
Da klingelte sein Mobiltelefon. Es lag unter dem Koffer, den er aufs Bett gepackt hatte, um sein Notizbuch zu finden. Von allen, die ihn hätten anrufen können, meldete sich ausgerechnet Seev Avni.
»Ich wollte mich noch einmal mit Ihnen unterhalten«, meinte der Nachbar.
Avraham Avraham erklärte ihm, er könne ihn erst zu Wochenbeginn treffen. »Haben Sie noch weitere Informationen, die für unsere Ermittlung wichtig sein könnten?«
»Nicht direkt«, erwiderte Avni. »Es geht um etwas anderes.«
»Wenn es nicht mit der Ermittlung in Verbindung steht, aber dringend ist, rate ich Ihnen, auf dem Revier anzurufen. Ich bin ausschließlich mit den Ermittlungen zu Ofer befasst.«
»Ich möchte mit niemand anderem reden. Nur mit Ihnen. Und es hat bis Montag Zeit. Das eilt nicht.«
Der Nachbar klang deutlich weniger selbstsicher als in der vergangenen Woche in seinem Büro.
In dem Moment klingelte das Telefon im Hotelzimmer, und Avraham verabschiedete sich rasch von Avni. Die Sekretärin aus der Asservatenregistratur war am Apparat und teilte ihm mit, der schwarze Rucksack sei jetzt eingetroffen. »Aber ich kann nicht versprechen, dass sie heute noch damit anfangen«, sagte sie.
Am darauffolgenden Abend, als das Kriminaltechnische Labor im Landeskriminalamt in Jerusalem geschlossen war, saß Avraham Avraham am Esstisch einer Villa in Anderlecht, einer Stadt in der Nähe von Brüssel, deren Bewohner sehr gutsituiert waren. Man hatte ihn zwischen Jean-Marc und dessen Bruder Gijom plaziert, der ihm ähnlich sah, aber nicht so schillernd und weniger charismatisch war. Doch diese beiden belgischen Kerle wirkten wie Knaben neben ihrem Vater, einem ehemaligen Kriminalbeamten, der jetzt eine leitende Funktion in der Offiziersschule der belgischen Polizeikräfte bekleidete. Er saß der Tafel vor.
Elise, Jean-Marcs Frau, war eine Schönheit. Mindestens einen Meter achtzig groß, lange, kräftige Arme. Schulterfreies Kleid. Jede Bewegung ein Schauspiel. Sie und ihre Schwiegermutter, die Mutter der beiden Karot-Brüder, waren die Einzigen am Tisch, die nicht bei der Polizei arbeiteten. Und die beiden Kinder, natürlich – noch nicht. Elise war Verkaufsleiterin bei Mercedes.
Marianka saß zwei Plätze weiter, neben Gijom, weshalb sie und Avraham Avraham während des Essens kaum ein Wort wechselten, obwohl sie beide Fremde waren.
Ihre Fremdheit war unverkennbar.
Alle bemühten sich, Englisch zu sprechen, wechselten jedoch ganz ungezwungen immer wieder ins Französische, hauptsächlich der Kinder wegen. Sie sprachen über Kürzungen im Etat der Polizeikräfte, über das Essen in Belgien und das Essen in Israel und über Tel Aviv.
»Jean-Marc hat mir erzählt, die Strände in Tel Aviv seien wunderschön, aber dass er sie kaum zu sehen bekommen hat, weil du darauf bestanden hättest, dass er arbeiten muss«, sagte Elise, was Avraham bestätigte und dazu verlegen lächelte.
Als Vorspeise gab es Räucherlachs mit Spargel und zum Hauptgang Ente. Das Familienoberhaupt schwieg die meiste Zeit, und wenn der Vater sprach, blieb Avraham Avraham fast die Luft weg. Zum Beispiel wollte er wissen, ob denn die Familie Avraham auch im Diamanten- und Goldhandel tätig sei wie alle Juden, zumindest in Belgien. Avraham kaute langsam und mit geschlossenem Mund und nahm nach jedem Bissen einen Schluck Bier.
Mariankas Englisch war besser als das der anderen, doch sie sagte nur selten etwas. Die meiste Zeit lächelte sie, wobei ihr anzumerken war, dass sie angespannt war und versuchte, jedem am Tisch zuzuhören, was zunehmend komplizierter
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