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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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wurde, weil alle gleichzeitig redeten. Nach dem Hauptgang bot sie Jean-Marcs und Gijoms Mutter an, beim Abtragen des Geschirrs zu helfen.
    Sie war gerade mal drei Monate mit Gijom zusammen und nun erst zum zweiten Mal zu einem Abendessen mit der Familie eingeladen. Wie Gijom war auch sie bei der Verkehrspolizei. Geboren aber war Marianka in Slowenien, und nach Brüssel war sie als junges Mädchen gekommen. Sie war klein, ungefähr einen Meter sechzig, zierlich und wirkte knabenhaft. Ihre Augen waren braun, und sie hatte braunes, sehr kurzgeschnittenes Haar. Zur schwarzen Jeans trug sie einen grauen Rollkragenpullover, dessen Kragen sie wiederholt, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, bis übers Kinn hochzog.
    Kaffee und Kuchen wurden im Wohnzimmer gereicht. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, dass man Avraham Avraham fragte, wie ihm Brüssel gefallen habe. Er hatte schon genug Wein getrunken, um zu gestehen, viel habe er nicht gesehen, und das Wenige, das er gesehen hatte, habe ihn nicht eben begeistert. Er hatte gehofft, am nächsten Tag noch ein wenig herumgeführt zu werden, aber Jean-Marc hatte die Stadtrundfahrt und das versprochene Mittagessen im Muschel-Restaurant absagen müssen, weil er wegen einer neuen Spur im Mordfall Johanna Getz auch am Samstag arbeiten musste.
    »Dann können wir vielleicht eine Sightseeingtour mit dir machen«, schlug Marianka vor und schaute Gijom an. Doch Gijom hatte andere Pläne.
    »Nicht tragisch«, sagte Avraham Avraham. »Ich habe ohnehin nur noch einen halben Tag, am Nachmittag muss ich schon am Flughafen sein.«
    Doch Marianka meinte, an einem halben Tag ließe sich jede Menge schaffen. Gijom und sie brachten ihn noch zum Hotel.

    Es wurde ein derart ereignisreicher Vormittag, dass er beinahe die Ermittlung, Ofer und den Rucksack, der in dem Container gelegen hatte und jetzt darauf wartete, dass jemand von der Kriminaltechnik die Güte hätte, ihn zu untersuchen, vergaß. Auch die öden vorangegangenen Tage rückten in den Hintergrund, Brüssel erschien ihm jetzt in einem ganz anderen Licht.
    Er wartete im Hotelfoyer auf Marianka, nachdem er sein Zimmer geräumt und seinen Koffer an der Rezeption gelassen hatte. Draußen war es noch dunkel und sehr kalt. Sie trug dieselbe Jeans wie am Vorabend, dazu einen schwarzen Pullover, und auf ihrem Kopf saß schief eine gestreifte Baskenmütze.
    »Wie hast du geschlafen?«, fragte sie munter.
    Sie gingen zu Fuß die Avenue Brugmann entlang, die sie nun zu einem weitläufigen Platz führte, unter dem die Stadt vor ihnen im Sonnenaufgang lag. Marianka ging unerwartet zügig, und Avraham hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
    Als sie auf der Place Poelaert standen und über die Dächer der Häuser und die im Morgenlicht orange leuchtenden Kirchtürme blickten, steckte sich Avraham Avraham eine Zigarette an und wollte den Ausblick genießen, aber Marianka sagte: »Wir müssen weiter. Es gibt noch jede Menge zu sehen.«
    Er wusste nicht, ob sie Spaß an diesem Dauerlauf hatte oder ihn nur aus Pflichtgefühl begleitete.
    Um sich aufzuwärmen, betraten sie ein kleines Café an einer Straßenecke in der Altstadt, in der Nähe des Gebäudes der Division Centrale. »Wir haben eine Viertelstunde«, erklärte Marianka.
    Zwei ältere Damen, die hinter dem hölzernen Tresen standen, begrüßten sie mit einem herzlichen »Bonjour, les enfants«, und Marianka tauschte mit beiden Küsschen aus. An einigen der kleinen Tische saßen erste Gäste, zumeist schnauzbärtige, betagte Herren. Viele hatten eine Sportzeitung vor sich. Avraham Avraham streifte seine Jacke ab und sog den Duft des Kaffees ein.
    Im Nachhinein, als er wieder in Israel war und an den Morgen mit Marianka zurückdachte, überraschte ihn, dass keinerlei Verlegenheit zwischen ihnen geherrscht hatte. Er hatte nach ihrer Herkunft gefragt, und sie hatte ihm erzählt, dass sie vor vierzehn Jahren nach Brüssel gekommen sei, als Dreizehnjährige. So erfuhr er, dass sie mehr als zehn Jahre jünger war als er. Ihr Vater hatte Jugoslawien gleich nach dem Zerfall der Einheit verlassen wollen. Aber es hatte einige Jahre gedauert, bis er einen festen Job in einem anderen Land gefunden hatte. In Brüssel. Sechs Jahre nach ihrer Übersiedlung hatten sie einen Antrag auf Einbürgerung gestellt und wenige Monate später die belgische Staatsangehörigkeit erhalten.
    »Ist dein Vater auch Polizist?«, fragte er.
    Marianka lächelte und antwortete: »Nicht ganz. Er ist Karatelehrer.«
    »Ernsthaft?

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