Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Ich hab Sportwissenschaften studiert. Oder vielleicht Nonne«, sie deutete auf die Kirche. Dann erzählte sie ihm, dass sie bei der Polizei gerade ihren Motorradführerschein machte. Wenn sie bei der Motorradstaffel der Verkehrspolizei genommen würde, könnte es gut sein, dass sie noch ein paar Jahre bliebe. »Du wolltest bestimmt immer Polizist werden«, meinte sie schließlich.
»Stimmt. Ich erinnere mich nicht mehr, aber meine Eltern sagen, als kleiner Junge hätte ich eine blaue Polizeimütze gehabt, die ich immer aufhatte. Ich bin damit zum Kindergarten gegangen. Meine Mutter hat sie eines Tages heimlich weggeworfen. Sie war die Mütze leid.«
»Leben deine Eltern noch.«
»Ja.«
»Was machen sie?«
»Sie streiten sich.« Er lachte. »Mein Vater war Rechtsanwalt, und meine Mutter unterrichtete Literatur in der Schule. Sie sind beide pensioniert.«
Doch die Uhr blieb nicht stehen. Also gingen sie langsam in Richtung Hotel, eine schöne Allee entlang, an deren Anfang eine Statue des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar stand. Eine junge Frau joggte an ihnen vorüber, in Leggins und mit Kopfhörern in den Ohren. Marianka erzählte, dass sie oft in dieser Allee auf einer Bank saß und Musik hörte.
»Und was machst du, wenn du nicht Polizist bist?«, fragte sie nach einer Weile.
»Dann bin ich auch Polizist.«
Das belustigte sie. »Auch am Wochenende? Hast du keine Hobbys? Machst du zum Beispiel kein Karate?«
»Nein. Auch in der Wahl meiner Hobbys bin ich offenbar Polizist. Die Wahrheit ist, ich habe ein geheimes Laster, das nur wenige kennen.«
»Ich verrate es niemandem. Aber warte, ich möchte raten. Hast du etwa auch eine Sammlung antiker Pistolen?«
»Nein. Wer hat denn eine Sammlung antiker Pistolen?«
»Gijom«, sagte sie.
»Ich lese, wenn ich Zeit habe, Kriminalromane, sehe mir Detektivfilme und Polizeifernsehserien an und beweise, dass sich der Ermittler irrt.«
Sie verstand nicht, was er meinte. Niemand verstand es.
»Wem beweist du das?«, fragte sie.
»Mir selbst. Ich lese einen Kriminalroman, und dabei stelle ich meine eigene Ermittlung an und beweise, dass der Kommissar in dem Buch sich irrt oder den Leser bewusst in die Irre führt und dass die wirkliche Lösung anders lautet als die, die er präsentiert.«
»In jedem Kriminalroman, den du liest?«
Ja. In jedem Kriminalroman, das hätte er schwören können. Er nickte.
»Dann gib mir ein Beispiel.«
»Nenn mir einen Kriminalroman, den du magst. Hercule Poirot zum Beispiel, kennst du den? Da fällt mir ein, dass er ja Belgier ist. Vor kurzem erst habe ich seinen ersten Fall von Agatha Christie gelesen und dabei entdeckt, dass er dort eine der Figuren vollkommen zu Unrecht einer Straftat beschuldigt.«
»Was soll das heißen: zu Unrecht?«
»Genau das. Poirot untersucht den Giftmord an einer wohlhabenden alten Dame. Am Ende des Romans beschuldigt er deren Hausdame des Mordes, aber sie ist völlig unschuldig. Fälschlicherweise beschuldigt er sie der Tat, und ich kann das beweisen.«
»Aber warum sollte er so etwas tun?« In Mariankas Blick lag echtes Erstaunen.
»Dafür gibt es eine Menge Gründe. Aber das ist eine sehr lange Geschichte«, erwiderte Avraham Avraham.
Plötzlich sah er an einem der prachtvollen Gebäude ein Stück die Allee hinunter eine Fahne in den Farben Blau, Weiß und Rot aus einem Fenster im zweiten Stock hängen. Er ging auf das Haus zu und entdeckte, dass dies das slowenische Konsulat war.
»Deine Lieblingsallee in Brüssel ist ausgerechnet diejenige, in der sich das slowenische Konsulat befindet, aber Heimweh hast du keines«, sagte er.
Sie lächelte und erwiderte: »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Allee ist einfach wunderschön. Du müsstest sie mal im Dezember sehen, vor Weihnachten, wenn sie mit Lichterketten geschmückt ist.«
Wie gern ich das würde, dachte er.
Während sie vor dem Hotel auf das Taxi warteten meinte Avraham Avraham: »Wir haben alles geschafft, oder?«
»Nicht mal annähernd«, erklärte Marianka. »Wir hätten uns noch viel mehr ansehen können. Schade, dass du nur einen halben Tag hattest.«
»Ja, schade«, sagte er. »Aber trotzdem: danke.«
Bevor er ins Taxi stieg, gab sie ihm ihre Visitenkarte und bat, er möge ihr eine E-Mail schreiben und ihr berichten, wie die Suche nach Ofer ausgegangen sei. »Solltest du herausfinden, dass er in Koper ist, bin ich gerne bereit zu helfen«, versprach sie.
Als das Taxi losfuhr, rief Jean-Marc an, um sich
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