Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
zu verabschieden. »Der Fall ist gelöst«, erklärte er.
»Welcher Fall?«
»Der Mord an Johanna Getz. Deshalb konnte ich dich heute nicht mitnehmen. Wir haben ihren Mörder heute Morgen verhaftet.«
War die belgische Polizei etwa besser als die israelische? Wie war es möglich, dass sie den Fall so schnell abschließen konnten?
»Und wer war es?«, fragte er.
»Ein anderer Nachbar. Nicht der Eigentümer der Wohnung. Ein Psychopath, der im ersten Stock wohnt.«
»Warum hat er es getan?«
»Ist noch nicht klar. Alles noch sehr undurchsichtig. Er wird noch verhört, aber er ist es, wir haben keinen Zweifel. Er hat sofort geöffnet, als wir an seine Tür geklopft haben. Wirkte, als sei er nicht überrascht.«
Jean-Marc entschuldigte sich noch einmal, dass er nicht mehr Zeit für ihn gehabt hatte. Besonders am heutigen Tag. »Du bist einfach in der falschen Woche gekommen«, sagte er abermals.
10
Ihm war klar gewesen, dass Michal irgendwann dahinterkommen würde.
Am Donnerstag passierte es dann, als sie beide ab Mittag zu Hause waren. Genau zwei Wochen nach dem ersten Tag der Ermittlung.
Seev saß am Schreibtisch auf dem geschlossenen Balkon und arbeitete. Wie an dem Tag, an dem er durch die halb geöffneten Sonnenblenden Avraham und dessen Leute beobachtet hatte. Zu den Klängen einer CD mit Ilays Lieblingskinderliedern fütterte Michal ihren Sohn in der Küche und legte ihn dann zum Mittagsschlaf in sein Bett.
Das schwarze Heft zog ihn an, rief ihn, es aufzuschlagen. Ein gefährliches Unterfangen, am helllichten Tag. Seev las erneut die ersten drei Briefe und den Eingangsabsatz des vierten Briefes, den er in der vergangenen Nacht verfasst hatte.
Nachdem sie geduscht hatte, kam Michal auf den Balkon und fragte, ob er mit ihr zu Mittag essen wolle, und er sagte, ein Sandwich vor dem Computer reiche ihm, er wolle seine Arbeit nicht unterbrechen. Wollte er ihr damit etwas andeuten? Und wollte er, dass sich das Gespräch so entwickelte?
Er hatte sich bisher noch nicht in der Lage gefühlt, ihr seine Teilnahme an dem Workshop zu gestehen, konnte aber das Erwachen seines Schreibflusses nicht auf Dauer vor ihr verbergen. Nicht vor Michal, die Zeugin aller gescheiterten Versuche gewesen war, die seine Frustration ertragen hatte, weil er nicht die Zeit und den passenden Ort zum Schreiben fand, seine Furcht, dass sich ihm das Schreiben auf immer entziehen würde.
Was dann geschah, hätte er sich niemals vorstellen können. Es wurde einer der schlimmsten Tage seines Lebens.
Das war mit das Erste gewesen, was Seev zu ihr gesagt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren: Er wolle schreiben. Er hatte in Jerusalem seinen Abschluss in Englischer Literatur gemacht, Michal in Tel Aviv ihren Bachelor in Politikwissenschaften. Sie trafen sich während der Pädagogikausbildung am Seminar der Kibbuzim. Wie lange das her war. Alle hatten einander gefragt, ob sie wirklich Lehrer werden wollten, und alle hatten mit Nein geantwortet. Alle, bis auf Michal. Sie war siebenundzwanzig und damit ein Jahr älter als er. Beide waren sie Singles, nach längeren, mehr oder weniger ernsthaften Beziehungen. Seev hatte ihr erzählt, er schreibe, oder dass er schreiben wolle, und Michal hatte nicht gefragt, was, sie hatte nur gesagt, das finde sie phantastisch und hoffe, eines Tages seine Erzählungen lesen zu können. Er wusste nicht, ob sie ihm damit andeuten wollte, es könnte zwischen ihnen etwas Dauerhaftes entstehen, oder ihn nur in seinem Vorhaben bestärken wollte.
Michal kam zu ihm, und er klappte das Heft zu. Sie wuschelte mit der Hand durch seine Haare, aber er drehte sich nicht zu ihr um.
»Gibt es da etwas, das du mir erzählen willst?«, fragte sie.
»Nein, warum?«
»Mir scheint doch. Du arbeitest schon seit einiger Zeit an einem Text. Glaubst du etwa, ich sehe das nicht?«
Hätte er diese Frage tatsächlich beantworten müssen, wäre seine Antwort einigermaßen konfus ausgefallen. Er hatte angenommen, dass sie es bemerkt hatte, hatte es gehofft – und sich gleichzeitig gewünscht, sie sähe es nicht. Vor einiger Zeit waren sie übereingekommen, dass sie ihn nicht mehr fragen sollte, ob er an etwas arbeite, weil die Frage allein Salz auf seine Wunden war. Jetzt endlich konnte er ihr eine andere Antwort geben.
»Es ist noch sehr unfertig. Ich weiß nicht, ob ich schon darüber reden kann.« Er war aufgeregt, und sie spürte seine Aufregung offenbar und ließ sich davon anstecken.
Sie sagte: »Moment noch, lass
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