Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
mich schnell einen Kaffee holen, bevor du erzählst. Soll ich dir auch einen machen?«
Als sie in der Küche war, beschloss er, ihr alles zu erzählen. Der brennende Wunsch in ihm war stärker als die Angst.
Sie kehrte auf den Balkon zurück, erklärte in feierlichem Ton: »Jetzt bin ich bereit«, setzte sich in den braunen Sessel und stellte ihren Becher auf dem kleinen Korbtisch ab.
Seev drehte seinen Stuhl ihr zu. »Also gut, es ist so«, begann er. »Ich bin seit einigen Wochen in einem Schreibworkshop.« Sie wirkte weder erschüttert noch betroffen. »Ich hatte nicht vor hinzugehen, und es tut mir leid, dass ich es dir nicht erzählt habe. Es war Zufall. Ich bin am Ariela-Haus vorbeigekommen, habe den Aushang gesehen und bin reingegangen, nur um zu sehen, wie so ein Workshop abläuft. Ich hatte auf keinen Fall die Absicht zu bleiben. Der Dozent ist Michael Rosen, falls dir der Name etwas sagt. Ein junger, ziemlich bekannter Autor. Wir haben uns ein wenig angefreundet, und ich bin vor allem seinetwegen geblieben. Entschuldigung, dass ich dir nicht früher davon erzählt habe.«
»Moment, seit wann gehst du da hin? Wie kann es sein, dass ich bis jetzt nichts davon geahnt habe?«
Sie freute sich wirklich.
»Seitdem ich dir sage, ich würde sonntagnachmittags ins Ariela-Haus arbeiten gehen. Da findet der Workshop statt. Richtig gelogen habe ich also nicht.«
»Meinst du, das kümmert mich? Hauptsache, du hast endlich etwas unternommen. Und hilft dir das? Hast du das Gefühl, dass dort etwas passiert?«
Sie hätte ihm den ätzenden Zynismus in Erinnerung rufen können, in den er jedes Mal verfallen war, wenn sie vorschlug, er solle an einem Workshop für kreatives Schreiben teilnehmen, um die Blockade loszuwerden. Sie tat es nicht.
»Ja. Ich weiß ganz sicher, dass es mir guttut«, sagte er.
Letztlich hatte nur Michal an ihn geglaubt. Auch in den Wochen oder Monaten, da er selbst es nicht mehr getan hatte. In denen er aus Verzweiflung aufgehörte hatte, von dem Augenblick zu träumen, in dem er ihr eine Erzählung vorlesen würde, die er geschrieben hatte. Eine reife, vollendete Erzählung. Und sehen würde, wie sie vom Zauber dieser Erzählung gefangengenommen wurde. Jetzt konnte er es tun, wusste aber nicht, ob sich die Gelegenheit ergeben würde. Was er geschrieben hatte, war nicht leicht zu verdauen, und Michal könnte Schwierigkeiten mit der Lektüre haben.
Der zweite Brief enthielt die eindringlichsten Zeilen, die sein Protagonist Ofer bisher geschrieben hatte, zumindest in seinen Augen. Entstanden war er nach dem langen Gespräch mit Avraham in dessen Büro und inspiriert von den Einsichten, die Seev dort gekommen waren. Ofer analysierte in seinem Brief die Angst seiner Eltern vor ihm und seiner Andersartigkeit. Er versuchte, ihnen und sich selbst den Ursprung dieser Angst zu erklären. Der Brief endete mit dem brutalen Satz: Jahrelang habt Ihr versucht, mich auszuhungern, habt mir das vorenthalten, was ich benötigt hätte, wolltet mich klein halten, damit mein Leben nicht besser ist als das Eure, damit mein Leben nicht wie ein Zerrspiegel die Armseligkeit Eures eigenen Lebens zeigt .
Er hatte wieder mit den Worten unterzeichnet: Schon nicht mehr der Eure, Euer Sohn Ofer .
Und darunter hatte er geschrieben: Fortsetzung folgt ?
Stilistisch gesehen war der zweite Brief vollkommener als der erste. Er hatte Ausdrücke wiederholt, die sich im ersten Brief fanden, hatte syntaktische Muster verwendet, die ihm aufgefallen waren, als er den Brief erneut gelesen hatte, um Ofer eine glaubwürdige und konsequent gleichbleibende Stimme zu verleihen. Auch hatte er Floskeln eingefügt, die er in der Klasse oder während der Pausen aufgeschnappt und am Ende jedes Schultages in sein Heft notiert hatte. Inzwischen hatte er auch gelernt, beim Schreiben seine Finger nicht mit dem Blatt in Berührung zu bringen, auf das er die Reinfassung übertrug. Außerdem hatte er eine andere Sorte Kuverts gekauft und die Einweghandschuhe nicht in den hauseigenen Mülleimer geworfen, sondern in die Tasche gesteckt und in einer der Mülltonnen an der Schule entsorgt.
Der zweite Brief hatte zwei Tage im Kasten gesteckt, ehe er verschwunden war.
Michal schaute ihn aufgeregt und erwartungsvoll an. »Also, was schreibst du da?«, fragte sie.
»Sekunde, lass mich erklären.«
Doch sie war nicht zu bremsen. »Gibt euch der Kursleiter Übungen? Wie läuft das?«
»Im Prinzip, ja. Michael gibt allen Teilnehmern eine Schreibübung zu
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