Axis
das. Sie hatte seinen sterbenden Körper in den Armen gehalten. Sie war es gewesen, die ihm geholfen hatte, in die Wüste zu entkommen, zu diesem Ding, das er so verzweifelt gewollt hatte – das gleiche Ding, das auch Isaac wollte. »Aber du kannst mit seiner Stimme sprechen.«
»Weil ich mich an ihn erinnere.«
»Du erinnerst dich an ihn?«
»Ja, das heißt, er… ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
Der Junge wurde unruhig. Sulean unterdrückte ihren Schock und rang sich ein besänftigendes Lächeln ab. »Du brauchst es nicht zu erklären. Es ist ein Rätsel. Ich verstehe es auch nicht. Erzähl mir einfach, wie es sich anfühlt.«
»Ich weiß, was ich bin, ich weiß, wofür sie mich gemacht haben. Dr. Dvali, Mrs. Rebka – sie wollen, dass ich mit den Hypothetischen spreche. Aber das kann ich nicht. Da ist etwas in mir…« Isaac deutete auf seine Rippen. »Und da draußen in der Wüste… Etwas, das sich an Millionen von Sachen erinnert, und Esh ist eine davon, aber weil er ist wie ich, ist diese Erinnerung meine Erinnerung… Ich meine…«
Sulean streichelte dem Jungen über den Kopf. Seine Haare waren feucht und sandig. »Beruhige dich.«
»Das Ding in mir erinnert sich an Esh, und ich erinnere mich an das, an das Esh sich erinnert hat. Ich sehe dich an und sehe euch beide.«
»Uns beide?«
»So wie du jetzt bist. Und so wie du damals warst.«
»Und Esh kann mich auch sehen?«
»Nein, ich habe doch gesagt, er ist tot, er kann nichts sehen. Er ist nicht hier. Aber ich weiß, was er sagen würde, wenn er hier wäre.«
»Und was würde er sagen, Isaac?«
»Er würde sagen…« Der Junge wechselte wieder in die marsianische Sprache, in einen Dialekt, der Sulean nach all den Jahren immer noch erschreckend vertraut war. »Er würde sagen: Hallo, große Schwester.«
Eshs Stimme, ohne Zweifel.
»Und er würde sagen…«
»Was?«
»Er würde sagen: Hab keine Angst.«
Das ist unmöglich, dachte Sulean. Sie trat vom Bett zurück, ging fast bis zur Tür – wo Avram Dvali, den sie gar nicht hatte kommen hören, stand und zuhörte, das Gesicht gerötet, zornig, eifersüchtig.
»Wie lange wissen Sie das schon?«
Dvali hatte darauf bestanden, nach draußen zu gehen, weg von den anderen, ein Stück in die Wüste hinein, die sie seit Tagen umgab. Ein gewaltiger Himmel wölbte sich über sie und von den Werken der Menschheit war nur der schäbigste Teil zu sehen.
Esh, dachte Sulean. So weit musste sie reisen, um seine Stimme wiederzuhören. »Seit einigen Wochen.«
»Wochen! Und hatten Sie die Absicht, diese Information mit uns zu teilen?«
»Eine Information hat es nie gegeben. Nur eine Möglichkeit.«
»Die Möglichkeit, dass Isaac Erinnerungen mit Ihrem marsianischen Experiment teilt, diesem Esh.«
»Esh war kein Experiment. Er war ein Kind, Dr. Dvali. Und er war mein Freund.«
»Sie weichen aus.«
»Ich weiche überhaupt nicht aus. Ich habe mit Ihrer Arbeit nichts zu tun. Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich Sie davon abgehalten.«
»Aber so ist es nun einmal nicht gekommen, und jetzt sind Sie hier. Mir scheint, Sie sollten Ihre Motive hinterfragen, Ms. Moi. Ich glaube, Sie sind aus dem gleichen Grund hier wie wir. Weil Sie Ihr ganzes Leben lang versucht haben, die Hypothetischen zu verstehen – und dabei kein Stückchen weitergekommen sind.«
Sicherlich hatten die Hypothetischen in Suleans Denken immer eine Rolle gespielt. Eine Obsession? Vielleicht, aber sie hatte ihr Urteil nie getrübt. Was nun die Frage anging, ob sie die Hypothetischen verstand… »Sie existieren nicht«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Die Hypothetischen. Sie existieren nicht, nicht in dem Sinne, wie Sie sie sich vorstellen. Was für ein Bild haben Sie von ihnen? Wesen von unendlicher Weisheit, unergründlich für unseren armseligen Versand? Das war der Fehler, den die marsianischen Vierten gemacht haben. Lässt sich nicht jedes Risiko rechtfertigen, wenn die Aussicht besteht, sich mit Gott zu unterhalten? Aber sie existieren nicht. Es gibt nichts dort oben am Himmel, nichts außer einer gewaltigen operativen Logik, die eine Maschine mit der anderen verbindet. Diese Logik ist alt, sie ist komplex – aber sie ist kein Bewusstsein.«
»Wenn das so ist – mit wem haben Sie dann gerade gesprochen?«
Sulean öffnete den Mund. Und machte ihn wieder zu.
In dieser Nacht schliefen Lise und Turk miteinander; das gemeinsame Zimmer erwies sich als Aphrodisiakum. Sie sprachen nicht darüber, mussten nicht
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