Axis
die Erdbeben gesagt hat?«
Er fuhr in einem Wagen mit Dvali, der am Steuer saß. Der Wind schob noch immer Schlangenspuren aus Asche über die Straße, doch der größte Teil schien verweht zu sein – oder in den Boden eingesunken, so wie das Flatterding in Isaacs Haut eingesunken war.
Noch einen Tag, dann würden sie die Ausläufer des Ölfördergebiets erreichen. Der Punkt den sie durch Triangulation ermittelt hatten, lag einige hundert Kilometer westlich davon.
»Ich kann nicht sagen, dass ich ihr nicht glaube«, erwiderte Dvali mit ruhiger Stimme. »War etwas darüber in den Nachrichten?«
Turk hatte sich immer wieder den Kopfhörer ins Ohr gesteckt, auch wenn der Empfang äußerst schlecht war. »Keine Meldungen über Erdbeben. Aber was heißt das schon?« Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hätte er auch Munchkins oder Dinosaurier nicht mehr ausgeschlossen. »Sie sagen, es könnte wieder passieren, ein weiterer Ascheregen. Halten Sie das für möglich?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Außer vielleicht Isaac, dachte Turk.
Für die Nacht hielten sie bei einem Motel. Vor Kurzem noch von den Fahrern der Tanklaster frequentiert, lag es nun verlassen da.
Sie brauchten nicht lange zu rätseln, warum die Anlage aufgegeben worden war. Wie Girlanden hingen die fremdartigen Gewächse vom Dach des Gebäudes, bunte, röhrenartige Dinger, die durch den eigenen Zerfallsprozess zu Spitzenmuster geworden waren. Zuvor mussten sie aber sehr schwer gewesen sein – Teile des Daches waren unter ihrem Gewicht eingestürzt. Und das war noch nicht alles: Ein filigranes Ensemble aus blauen Ranken war in das Restaurant eingedrungen, hatte alles, was sich im Eingangsbereich befand – Fußboden, Decke, Tische, Stühle, ein Servierwagen –, miteinander verknotet. Aber auch das war in Auflösung begriffen, bei der kleinsten Berührung zerfiel es zu ranzigem Pulver.
Turk machte Zimmerschlüssel ausfindig und öffnete etliche Türen, bis er so viele intakte Räume gefunden hatte, dass sie sich ein wenig Privatsphäre gönnen konnten. Turk und Lise nahmen ein Zimmer gemeinsam, Dvali hatte eines für sich, und Sulean Moi erklärte sich bereit, eine Suite mit Diane, Anna Rebka und Isaac zu teilen.
Die Marsianerin war nicht unzufrieden mit der Zimmerverteilung. Sie brachte es zwar nicht über sich, Anna Rebka zu mögen, aber sie hoffte, dass ihr ein paar Minuten allein mit dem Jungen gewährt werden würden.
Die Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Am Abend bestellte Dvali sie alle zu einer »Gemeinschaftsversammlung« ein. Isaac konnte daran natürlich nicht teilnehmen, und Sulean bot an, so lange bei ihm zu bleiben – sie hätte zu der Diskussion ohnehin nichts beizutragen, erklärte sie.
Als die anderen das Zimmer verlassen hatten, trat Sulean an das Bett des Jungen.
Er hatte kein Fieber und konnte sich sogar immer mal wieder aufsetzen, um etwas zu trinken und zu essen. Im Auto war er sehr ruhig gewesen, so als wäre ein Teil des furchtbaren Sehnens von ihm gewichen, seit sich das Flatterding auf ihn gestürzt hatte. Dvali wollte dieses Ereignis nicht erörtern, weil er es nicht verstand, aber es war der erste direkte Kontakt des Jungen mit den Schöpfungen der Hypothetischen gewesen. Sulean fragte sich, wie es sich angefühlt haben mochte. War das Ding noch immer in seinem Körper? Hatte es sich in Fragmente aufgelöst, um durch seinen Blutkreislauf zirkulieren zu können? Und wenn ja, warum? Gab es überhaupt einen Grund – oder war es lediglich ein weiteres Glied in einer Millionen Jahre andauernden Evolution?
Nur allzu gern hätte sie Isaac danach gefragt – aber andere Dinge waren wichtiger.
Sie lächelte dem Jungen zu, und Isaac lächelte zurück. Ich bin seine Freundin, dachte sie. Seine marsianische Freundin. »Weißt du, ich kannte einmal jemanden wie dich«, sagte sie dann, »vor langer Zeit.«
»Ja, ich erinnere mich.«
Sulean spürte ein Flattern in der Brust. »Du weißt, von wem ich spreche?«
Isaac nickte feierlich, seine goldgesprenkelten Augen blickten in die Ferne. »Esh.«
»Was… was weißt du von ihm?«
Und dann erzählte der Junge die Geschichte von Eshs kurzer Kindheit in der Station Bar Kea. Und verwendete dabei wieder marsianische Worte, seltene marsianische Worte, Eshs Worte.
Sulean wurde schwindlig. »Esh«, flüsterte sie.
»Er kann dich nicht hören, Sulean.«
»Aber du kannst ihn hören?«
»Er kann nicht sprechen. Er ist tot. Das weißt du doch.«
Natürlich wusste sie
Weitere Kostenlose Bücher