Axis
ein Armband um das magere Handgelenk hing. »Wird langsam Zeit, die Motoren abzustellen.«
»Das kannst du nach der Uhr bestimmen?«
»Ich hab Augen und Ohren. Ich weiß, wo wir vor Anker gelegen haben, und ich kann hören, was für eine Geschwindigkeit wir machen.«
Das klang wie eine von Tomas’ Aufschneidereien, aber vielleicht war es auch wahr. Turk wischte sich die Handflächen an den Knien seiner Jeans ab. Kein Grund, nervös zu sein. Was sollte schon schiefgehen? In diesem Stadium war alles nur noch eine Frage der Ballistik.
Was dann aber doch schiefging, war – wie man ihm später sagte – die Tatsache, dass auf der Kommandobrücke der Kestrel der Strom ausfiel, aufgrund eines Kurzschlusses oder eines Ausfalls in den uralten Schaltkreisen, sodass der Kapitän weder die Anweisungen des Küstenlotsen hören noch seine eigenen Befehle an den Maschinenraum weitergeben konnte. Die Kestrel hätte im Leerlauf an Land treiben sollen, stattdessen strandete sie unter voller Kraft. Als das Schiff auf Grund lief und schwere Schlagseite nach Steuerbord bekam, wurde Turk von seinem Stuhl geschleudert. Er war noch aufmerksam genug, um zu bemerken, dass der Geschirrschrank aus Stahl sich von der nahen Wand löste und in seine Richtung kippte. Der Schrank hatte die Größe eines Sarges und war ebenso schwer, und Turk sah sich schon unter ihm begraben – als Tomas, irgendwie immer noch aufrecht stehend, den quietschenden Metallkasten an der Ecke zu fassen bekam und ihn so lange hielt, bis Turk entwischen konnte. Er taumelte gegen einen Stuhl, die Kestrel kam zum Stillstand, die Schiffsmotoren gingen aus. Der Rumpf des alten Tankers gab ein dumpfes, prähistorisches Ächzen von sich und verstummte dann. Gestrandet. Kein Schaden entstanden.
Außer bei Tomas, der das volle Gewicht des Schranks abbekommen und eine Schnittwunde unterhalb des linken Ellbogens davongetragen hatte, so tief, dass der Knochen zu sehen war. Er hielt den verletzten Arm im blutgetränkten Schoß und wirkte ziemlich erschrocken.
Turk band die Wunde mit einem Tuch ab und sagte seinem Freund, er solle aufhören zu fluchen und sich nicht rühren. Dann ging er Hilfe holen. Es dauerte zehn Minuten, bis er einen Offizier fand, der ihm zuhörte.
Der Schiffsarzt war bereits an Land gegangen, und in der Krankenstation gab es keine Medikamente mehr, also bekam Tomas ein paar Aspirintabletten und wurde in einer aus Seilen und einem Korb improvisierten Trage hinabgelassen. Der Kapitän der Kestrel weigerte sich, die Haftung für den Vorfall zu übernehmen. Er kassierte seinen Lohn vom Chef der Abwracker und bestieg noch vor Sonnenuntergang den Bus nach Port Magellan. Und so fand sich Turk in der Sorge um Tomas allein gelassen, bis er schließlich einen malayischen Schweißer, der gerade Pause machte, überreden konnte, einen richtigen Arzt zu rufen. Oder was man in diesem Teil der Neuen Welt so als Arzt bezeichnete. Eine Ärztin, eine Frau, sagte der magere Malaye in gebrochenem Englisch. Eine gute Ärztin, eine westliche Ärztin, sehr gütig zu den Abwrackern. Sie war eine Weiße, lebte aber seit Jahren in einem Minang-Fischerdorf nicht weit von hier, ein Stück die Küste hinauf.
Ihr Name, sagte er, sei Diane.
6
Turk erzählte Tomas von Lise, ein wenig jedenfalls: Wie sie sich näherkamen, als sie in den Bergen kampierten; wie sie ihm nicht mehr aus dem Sinn ging, als sie wieder in die Zivilisation zurückgekehrt waren; wie sie seine Anrufe nicht mehr erwiderte; wie sie während des Ascheregens wieder zusammenkamen.
Der alte Mann hörte von seinem zerschlissenen Sessel aus zu, nahm hin und wieder einen Schluck aus einer grünen Flasche und lächelte so friedlich, als hätte er in seinem Kopf eine Art windstillen Ort gefunden. »Klingt, als würdest du die Lady kaum kennen.«
»Ich weiß so viel von ihr, wie ich wissen muss. Bei manchen Leuten ist es leicht zu entscheiden, ob man ihnen trauen kann oder nicht.«
»Und du traust ihr?«
»Ja.«
Tomas deutete auf den Schritt seiner ausgebeulten Jeans. »Dem hier traust du. Zoll für Zoll ein Seemann.«
»So ist es hier nicht.«
»Ist es nie. Ist es aber immer doch. Und warum kommst du jetzt hier rausgefahren und erzählst mir von dieser Frau?«
»Eigentlich hatte ich gedacht, ich könnte sie dir mal vorstellen.«
»Mir? Ich bin doch nicht dein Vater.«
»Nein. Und du bist auch nicht mehr das, was du mal warst.«
»Weiß nicht, was das jetzt damit zu tun hat.«
Turk räusperte sich.
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