Axis
vor den seltsamen Ereignissen der letzten Tage.
»Wie alt warst du genau, als dein Vater verschwand?«
»Fünfzehn.« Sehr junge Fünfzehn. Naiv, zwanghaft an amerikanischen Moden festhaltend, um gegen die Welt zu protestieren, in die sie versetzt worden war. Noch mit Zahnspangen…
»Haben die Behörden es ernst genommen?«
»Wie meinst du das?«
»Nun, er wäre nicht der erste Mann, der seine Familie verlässt.«
»Nein, dazu war er nicht der Typ. Ich weiß, dass das in solchen Fällen immer gesagt wird. Aber er war so engagiert in seiner Arbeit an der Universität. Wenn er ein Doppelleben geführt hat, weiß ich wirklich nicht, wo er die Zeit dafür hergenommen hat.«
»Konnte er euch denn mit seinem Gehalt über Wasser halten?«
»Wir hatten Geld von der Familie meiner Mutter.«
»Dann war es offenbar nicht so schwer, die Aufmerksamkeit der Provisorischen Regierung zu gewinnen, nachdem er verschwunden war.«
»Sie haben sogar ehemalige Interpol-Leute angeheuert, neben der eigentlichen Polizeiermittlung, aber es ist nichts dabei herausgekommen.«
»Also habt ihr Kontakt mit der Genomischen Sicherheit aufgenommen.«
»Nein. Sie haben sich an uns gewandt.«
Turk nickte nachdenklich, während er den Wagen durch eine flache Mulde manövrierte. Ein dreirädriges Motorrad kam ihnen entgegen – Ballonreifen, hoher Sitz, Gemüsekorb auf dem Gepäckträger. Der Fahrer, ein magerer Einheimischer, sah sie gleichgültig an.
»Fand das irgendjemand seltsam – dass die Genomische Sicherheit plötzlich bei euch vor der Tür stand?«
»Mein Vater forschte über Vierte in der Neuen Welt, daher waren sie längst auf ihn aufmerksam geworden. Er hatte schon einige Gespräche mit ihnen geführt.«
»Forschungen über Vierte? Zu welchem Zweck?«
»Persönliches Interesse. Letztlich war das alles Teil seiner Faszination für die Postspinwelt – die unterschiedliche Art und Weise, wie Menschen sich darauf einstellten. Und ich glaube, er war überzeugt davon, dass die Marsianer mehr über die Hypothetischen wussten, als in ihren Archiven stand. Und vielleicht ist dieses geheime Wissen von Vierten in Umlauf gebracht worden, zusammen mit dem chemischen und biologischen Zeug.«
»Aber die Leute von der Genomischen Sicherheit haben auch nichts herausgefunden.«
»Nein. Sie haben zwar noch eine Weile weiter ermittelt – behaupteten sie jedenfalls –, aber letzten Endes hatten sie auch nicht mehr Erfolg als die Provisorische Regierung. Die Schlussfolgerung, die sie offensichtlich gezogen haben, lief darauf hinaus, dass seine Forschungen sozusagen die Oberhand über ihn gewonnen haben – irgendwann sei ihm die Langlebigkeit angeboten worden und er habe sich darauf eingelassen.«
»Okay, aber das heißt nicht, dass er verschwinden musste.«
»So läuft es aber oft. Die Leute machen die Behandlung und nehmen dann eine neue Identität an. Sonst müsste man sich auf peinliche Fragen gefasst machen, wenn die Altersgenossen nach und nach wegsterben und man selbst immer noch so aussieht wie auf College-Fotos. Die Vorstellung, ein neues Leben zu beginnen, ist für viele Leute reizvoll, vor allem, wenn sie persönliche oder finanzielle Probleme haben. Aber bei meinem Vater war es nicht so.«
»Menschen können furchtbare Angst vor dem Tod haben und es nie zu erkennen geben. Sie leben einfach damit. Doch wenn man ihnen einen Ausweg zeigt – wer weiß, wie sie dann reagieren?«
Oder wen sie alles zurücklassen würden… Lise schwieg für eine Weile. Über das Brummen des Motors hinweg hörte sie eine Mollmelodie, die aus den oberen Regionen des Waldes herabgetrillert kam, von einem Vogel, den sie nicht identifizieren konnte. Schließlich sagte sie: »Ich bin alles andere als überzeugt davon, dass er uns einfach verlassen hat, aber ich bin auch nicht allwissend, ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorging. Falls er die Behandlung wirklich gemacht hat – falls er irgendwo unter neuem Namen lebt –, okay, dann muss ich damit fertig werden. Ich muss ihn nicht unbedingt wiedersehen. Ich will nur wissen, was ist. Oder jemanden finden, der es weiß.«
»Zum Beispiel die Frau auf dem Foto. Sulean Moi.«
»Die Frau, die du nach Kubelick’s Grave geflogen hast. Oder diese Diane, die sie zu dir geschickt hat.«
»Keine Ahnung, wie viel Diane dir erzählen kann. Mehr als ich jedenfalls. Ich habe ganz bewusst keine Fragen gestellt. Die Vierten, die ich kennengelernt habe – es ist nicht sonderlich schwer, sie zu mögen, sie haben
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