Axis
eines der Themen, über die sie an jenen Abenden auf der Veranda gesprochen hatten, als sich der Himmel wie ein offenes Buch über ihnen erstreckte.
Damals, als Wun Ngo Wen auf der Erde eintraf, war Robert Adams noch ein junger Mann – Student an der Technischen Universität von Kalifornien –, der in Erwartung der als unausweichlich geltenden Zerstörung der Welt lebte.
Die Terraformung und die Kolonisierung des Mars war die große Erfolgsstory der Spin-Zeit. Indem man die Ausdehnung der Sonne und das Verstreichen vieler Millionen Jahre im äußeren Sonnensystem als eine Art Zeithebel nutzte, konnte man den Mars zumindest halbwegs bewohnbar machen und dort menschliche Kolonien ansiedeln. Und während auf der Erde im Schutze der Spinmembran nur wenige Jahre verstrichen, erlebten auf dem Mars zur gleichen Zeit ganze Zivilisationen ihren Aufstieg und Niedergang.
Allein schon diese nackten Tatsachen – die in Gegenwart von Lises Mutter, deren Eltern in den Wirren des Spins zu Tode gekommen waren, unter keinen Umständen erwähnt werden durften – hatten ausgereicht, dass sich bei Lise die Nackenhaare aufrichteten. Natürlich hatte sie das alles auch in der Schule gelernt, aber ohne dass sich dabei dieses Gefühl von Ehrfurcht eingestellt hätte. In Robert Adams’ privaten Abendvorträgen dagegen waren die Zahlen nicht bloße Zahlen gewesen – wenn er von einer Million Jahren sprach, dann konnte Lise das ferne Tosen der sich aus dem Meer erhebenden Berge hören.
Eine ungeheuer alte und ungeheuer fremdartige menschliche Zivilisation war auf dem Mars entstanden – in etwa der gleichen Zeit, die Lise auf der Erde benötigte, um zur Schule und wieder zurückzulaufen.
Doch dann war diese Zivilisation von den Hypothetischen ebenfalls von einer Hülle umgeben worden, eine Maßnahme, die den Mars mit der Erde zeitlich synchronisierte und die endete, als auch der Spin der Erde aufgehoben wurde. Zuvor hatten die Marsianer allerdings ein bemanntes Raumschiff zur Erde geschickt. Die Besatzung hatte aus einem Mann bestanden: Wun Ngo Wen, dem sogenannten marsianischen Gesandten.
»Bist du ihm je begegnet?«, fragte Lise ihren Vater mehr als einmal.
»Nein.« Wun war bei einem Raubüberfall während der übelsten Jahre des Spins getötet worden. »Aber ich habe seine Rede vor den Vereinten Nationen gesehen. Er machte einen durchaus sympathischen Eindruck.«
(Lise hatte schon in jungen Jahren historische Filmaufnahmen von Wun Ngo Wen gesehen. Damals hatte sie sich vorgestellt, ihn zum Freund zu haben: eine Art intellektueller Munchkin, nicht viel größer als sie selbst.)
Aber die Marsianer, so ihr Vater, waren von Anfang an sehr zurückhaltend mit ihren Auskünften gewesen. Sie hatten der Erde ihre Archive übergeben, ein Kompendium ihrer naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die in einigen Bereichen weiter fortgeschritten waren als die irdische Wissenschaft. Doch darin war nur sehr wenig über Humanbiologie – wo sie die Voraussetzung für das Entstehen einer Kaste langlebiger »Vierter« geschaffen hatten – oder über die Hypothetischen zu lesen. Für Lises Vater waren das unverzeihliche Lücken. »Sie wissen seit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren, dass es die Hypothetischen gibt. Sie müssen doch irgendetwas über sie zu sagen haben, selbst wenn es nur Spekulationen sind.«
Als der Spin endete und Erde wie Mars in den üblichen Zeitfluss zurückkehrten, blühte für eine Weile der Funkverkehr mit dem Roten Planeten. Und es gab eine zweite Expedition zur Erde, ehrgeiziger als die erste, mit einer Gruppe von Gesandten, die in einem festungsartigen, dem alten UN-Komplex in New York angegliederten Gebäude untergebracht wurden: die marsianische Botschaft, wie es bald genannt wurde. Als ihre fünfjährige Amtszeit auslief, wurden sie mit einem terrestrischen Schiff zurück nach Hause gebracht, das von den großen Industrienationen gemeinsam gebaut worden war und von Xichang aus startete.
Eine weitere Mars-Delegation gab es nicht. Pläne, eine entsprechende terrestrische Expedition loszuschicken, scheiterten in multinationalen Verhandlungen, und auch die Marsianer waren dieser Idee nur mit wenig Begeisterung begegnet. »Ich habe den Verdacht«, sagte Lises Vater, »dass sie ein wenig schockiert von uns waren.« Der Mars war nie reich an Ressourcen gewesen, auch nach der Ecopoiesis nicht, und seine Zivilisation hatte nur mittels kollektiver Sparsamkeit überleben können. Die Erde – mit ihren riesigen,
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