Axis
der Vereinten Nationen, mit einem komplizierten Gesetzeswerk, das von internationalen Gremien erlassen und immer wieder überarbeitet wurde. Sofern es überhaupt so etwas wie eine offizielle Polizei gab, wurde sie von Interpol gestellt, doch die alltägliche Durchsetzung der Gesetze besorgten Blauhelmsoldaten. Das Ergebnis war eine Bürokratie, die mehr Akten als Gerechtigkeit hervorbrachte und deren Existenzberechtigung hauptsächlich darin lag, dass sie Konflikte zwischen unterschiedlichen nationalen Interessen verkleisterte. Um irgendetwas erledigt zu bekommen, musste man die richtigen Leute kennen, und Kirchberg war einer von den Leuten, die Brian kannte.
Nachdem Brian sich die unvermeidlichen Klagen angehört hatte – das Wetter, die aggressiven Ölkartelle, die holzköpfigen Untergebenen –, konnte er endlich zur Sache kommen: »Kann ich Ihnen einen Namen geben?«
»Genau das, was ich brauche«, brummte Kirchberg. »Noch mehr Arbeit. Was für ein Name?«
»Tomas Ginn.« Brian buchstabierte ihn.
»Und warum sind Sie an dieser Person interessiert?«
»Eine Konsulatsangelegenheit.«
»Ein amerikanischer Krimineller? Ein Baby-Verkäufer? Ein Organhändler?«
»Etwas in der Art.«
»Ich gebe ihn ein, sobald ich etwas Zeit habe. Sie schulden mir einen Drink.«
»Geht klar.«
Am darauffolgenden Morgen dann schob sich das Foto aus seinem Drucker, zusammen mit einer Notiz von Kirchberg. Brian betrachtete das Bild und musste unwillkürlich an die Leiche denken, die er vor einem Vierteljahrhundert unweit des Kirchenpicknicks gefunden hatte, die Leiche, die zwischen den Wurzeln zweier Bäume gelegen hatte, die Augen milchig weiß verfärbt, die Haut von pietätlosen Ameisen überzogen. Sein Magen krampfte sich auf die gleiche Art zusammen wie damals.
Das Foto zeigte die zerschundene Leiche eines alten Mannes, der auf einem salzverkrusteten Felsen lag. Die Male auf dem Körper konnten Blutergüsse sein oder Zeichen von Verwesung. Unverkennbar dagegen war das Einschussloch in der Stirn.
Kirchbergs Notiz lautete: Vor zwei Tagen in der Nähe von South Point an Land gespült. Keine Papiere, aber als Tomas Ginn identifiziert (US-Handelsmarine/DNS-Datenbank). Einer von euren?
Mr. Ginn hatte sich offenbar über die Grenzen des Picknicks hinausbegeben. Genauso wie Lise.
Später rief er Kirchberg noch einmal an. Diesmal war der Kollege weniger zum Plaudern aufgelegt.
»Ich habe das Foto bekommen«, sagte Brian.
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken.«
»Einer von unsern, haben Sie geschrieben. Wie ist das gemeint?«
»Besser, wenn ich dazu nichts sage.«
»Ein Amerikaner, meinen Sie?«
Keine Antwort. Einer von euren. Also ein Amerikaner – oder wollte Kirchberg darauf hinaus, dass Tomas Ginn zur Genomischen Sicherheit gehörte? Oder meinte er etwa: Einer von euren Morden?
»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Kirchberg. »Hier wartet nämlich jede Menge Arbeit auf mich.«
»Einen Gefallen noch«, sagte Brian. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Noch einen Namen.«
DRITTER TEIL
DER JUNGE IN DER WÜSTE
15
Bevor er noch mehr sagen konnte – auf Marsianisch oder auf Englisch –, versank Isaac in einen tiefen Schlaf. Die Vierten kümmerten sich weiterhin darum, dass es ihm an nichts fehlte, waren aber nicht in der Lage, die Krankheit zu behandeln oder zu diagnostizieren. Seine Werte waren stabil, er schien nicht in unmittelbarer Gefahr zu schweben.
Sulean Moi saß bei dem Kind, während die Sonne auf die Wüste hinter dem Fenster brannte und Schatten auf den alkalischen Splitt warf. Zwei Tage vergingen. Dann blies ein Sturm von den Bergen her, wie es zu dieser Jahreszeit gelegentlich vorkam, eine pechschwarze Wolkenfront produzierte Blitz und Donner, aber nur wenig Regen. Bis zum Sonnenuntergang hatte sich das Unwetter wieder verzogen, und nun zeigte sich der Himmel in einem strahlenden, gereinigten Türkis. Die Luft roch frisch und würzig. Der Junge schlief immer noch.
Draußen im Ödland sahen sich dürre Pflanzen von dem kurzen Regen zum Blühen ermuntert. Und vielleicht erblühten auch andere Dinge in der großen Leere. Dinge wie Isaacs Augenrose.
Äußerlich ruhig, war Sulean doch zutiefst erschüttert.
Der Junge hatte mit Eshs Stimme gesprochen.
Sie fragte sich, ob das gemeint war, wenn religiöse Texte vom Erzittern in der Gegenwart Gottes handelten. Die Hypothetischen waren zwar keine Götter – was immer dieses seltsam elastische Wort bedeutete –, aber sie
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