Axis
Leben vor Bar Kea war eine Geschichte, die ihr von ihren Lehrern erzählt worden war: die Geschichte von einem Mädchen, das mit seiner Familie von einer Flut des Paia-Flusses erfasst, fortgerissen und dann fünf Kilometer stromabwärts aus dem Ansaugfilter eines Dammes geborgen worden war. Die Eltern waren umgekommen, das Mädchen – diese nicht mehr in der Erinnerung vorhandene Sulean – war so schwer verletzt, dass ihr Leben nur durch einen biotechnischen Eingriff gerettet werden konnte.
Genauer gesagt, das Kind musste von Grund auf neu zusammengesetzt werden, und zwar mittels des gleichen Verfahrens, das verwendet wurde, um Leben zu verlängern und Vierte zu erschaffen.
Die Behandlung war mehr oder weniger erfolgreich. Körper und Gehirn wurden anhand von Schablonen, die in ihre DNA eingeschrieben waren, rekonstruiert. Sie hatte keine Erinnerungen an die Zeit vor dem Unfall, ihre Rettung war wie eine zweite Geburt. Sulean lernte die Welt neu kennen, so wie es ein Neugeborenes tut, erwarb ein zweites Mal die Sprache, krabbelte, bevor sie erste vorsichtige Schritte machte.
Doch die Behandlung hatte auch einen Haken, was der Grund dafür war, dass sie so selten angewendet wurde. Sie verlieh Sulean Langlebigkeit, aber unterbrach auch den natürlichen Zyklus ihres Lebens. In der Pubertät entwickelten marsianische Kinder jene tiefen Falten, die die Marsbewohner so deutlich von den Erdlingen unterschieden. Nicht Sulean: Sie blieb, nach marsianischen Maßstäben, geschlechtslos und auf bizarre Weise glatthäutig, ein Riesenbaby gewissermaßen. Wenn sie in den Spiegel sah, fühlte sie sich, selbst heute noch, unweigerlich an etwas Unfertiges erinnert, eine Larve, die sich in einem verrotteten Stumpf windet. Um sie vor Demütigungen zu schützen, wurde sie von den Vierten, die ihr das Leben gerettet hatten – den Vierten von der Wüstenstation Bar Kea –, in Obhut genommen und aufgezogen. Dort hatte sie hundert fürsorgliche, nachsichtige Eltern und die Hügellandschaft von Bar Kea als Spielplatz.
Das einzige andere Kind in der Station war der Junge, der Esh hieß. Sie hatten ihm keinen anderen Namen gegeben: nur Esh.
Esh war geschaffen worden, um mit den Hypothetischen zu kommunizieren. Sulean jedoch hatte den Eindruck, dass er noch nicht einmal in der Lage war, mit den Menschen in seiner Umgebung zu kommunizieren. Selbst mit Sulean, mit der er offensichtlich gern zusammen war, sprach er selten mehr als ein paar Worte. Esh wurde abgesondert, und sie durfte ihn nur zu genau festgelegten Zeiten sehen.
Trotzdem war sie seine Freundin. Es war ihr egal, dass das Nervensystem des Jungen empfänglich war für die obskuren Signale fremder Wesen, ebenso wie es Esh egal war, dass sie so rosa war wie ein Neugeborenes. Ihre jeweilige Einzigartigkeit machte sie einander ähnlich – und war daher unbedeutend geworden.
Die Vierten von der Wüstenstation Bar Kea förderten diese Freundschaft. Eshs Schweigsamkeit und die eher gewöhnliche Intelligenz, die er erkennen ließ, hatten sie schwer enttäuscht. Er war fleißig, aber desinteressiert. Er saß mit großen Augen in den Klassenräumen, die die Erwachsenen für ihn konzipiert hatten, und nahm eine riesige Menge von Informationen auf, stand diesen Informationen jedoch gleichgültig gegenüber. Der Himmel war voller Sterne und die Wüste war voller Sand – aber Sterne und Sand hätten, soweit es Esh betraf, auch die Plätze tauschen können.
Am lebhaftesten war er, wenn er mit Sulean allein war. An bestimmten Tagen durften sie die Station verlassen, um die Wüste zu erforschen. Natürlich wurden sie beaufsichtigt – einer der Erwachsenen war immer in Sichtweite –, doch verglichen mit den beengten Räumen der Station war es die reine Freiheit. Bar Kea war staubtrocken, nur nach dem Frühlingsregen bildeten sich zuweilen Tümpel zwischen den Felsen, und Sulean erfreute sich an den kleinen Wesen, die dann in diesen kurzlebigen Gewässern schwammen. Winzige Fische etwa, die sich, wenn das Wasser verdunstete, in schützende Zysten einschlossen, wie Samen, und zu neuem Leben erwachten, wenn es wieder regnete. Es machte ihr Spaß, das Wasser in den aneinandergelegten Händen zu halten und Esh zusehen zu lassen, wie die Fische zwischen den Fingern hindurchrutschten.
Esh stellte nie irgendwelche Fragen, aber Sulean tat so, als würde er es tun. In der Station war sie Schülerin, musste immer nur zuhören; wenn sie mit Esh allein war, wurde sie zur Lehrerin, er war der stumme,
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