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Axis

Axis

Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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Wurzel, doch es wuchs zu schnell, als dass es natürlicher Herkunft sein konnte. Es griff nach Isaacs Hand, als spürte es seine Wärme.
    Er hatte keine Angst vor dem Ding. Nein, das stimmte nicht ganz: Ein Teil von ihm hatte Angst, wollte zurückweichen, in die Sicherheit seines Zimmers flüchten. Aber über diesem Teil, ihn umhüllend, machte sich ein neues Gefühl seiner Selbst bemerkbar: mutig, stark. Und diesem neuen Isaac erschien der grüne Finger nicht furchterregend, ja, nicht einmal unvertraut. Er erkannte ihn, wenn er auch seinen Namen nicht wusste.
    Und er erlaubte ihm, ihn zu berühren. Langsam umschloss der grüne Finger sein Handgelenk. Isaac zog eine seltsame Kraft daraus – umgekehrt, so schien ihm, war es genauso – und er blickte wieder in den Himmel, wo die Sterne, die eigentlich Sonnen waren, hell schimmerten. Nun erschien ihm jeder Stern so vertraut wie ein Gesicht, jeder mit eigenem Gewicht, eigener Farbe, Entfernung und Identität. Bekannt, aber nicht benannt. Und wie ein Tier, das Witterung aufnimmt, wandte er sich einmal mehr nach Westen.
     
    Zwei Dinge waren für Sulean offensichtlich, als sie den Gemeinschaftsraum betrat. Zum einen war in ihrer Abwesenheit bereits ausgiebig debattiert worden – man hatte sie hierherbestellt, um sich zu erklären, nicht um an einer Beratung teilzunehmen. Zum zweiten schlug ihr eine Atmosphäre kollektiver Bedrücktheit, fast Trauer, entgegen, als hätten diese Leute begriffen, dass ihr Leben hier zu einem Ende kam. Und so war es auch: Diese Gemeinschaft konnte nicht mehr sehr lange existieren. Sie war gegründet worden zu dem Zweck, Isaac aufzuziehen, und dieser Prozess würde bald abgeschlossen sein. So oder so.
    Die Mehrzahl der Leute hier musste vor dem Spin geboren worden sein, dachte Sulean. Der Anteil jener mit akademischem Hintergrund war, wie bei den terrestrischen Vierten im Allgemeinen, sehr hoch, doch es gab auch Techniker, die für die Wartung der Kryoinkubatoren zuständig waren, es gab einen Mechaniker, einen Gärtner. Wie die marsianischen Vierten hatten auch sie sich von der Gesellschaft abgesondert. Sie waren nicht wie die Vierten, unter denen Sulean aufgewachsen war – aber sie waren Vierte, sie stanken geradezu nach Viertheit. So selbstgefällig, so blind für die eigene Arroganz.
    Avram Dvali, das war klar, führte den Vorsitz. Er bedeutete Sulean, auf einem Stuhl im vorderen Teil des Raumes Platz zu nehmen, und sagte: »Wir hätten gern einige Auskünfte von Ihnen, Ms. Moi, bevor die Krise weiter fortschreitet.«
    Sulean setzte sich. »Selbstverständlich bin ich gern behilflich. Soweit es mir möglich ist.«
    Mrs. Rebka, die rechts von Dvali am Fronttisch saß, warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Ich hoffe, dass das stimmt. Als wir vor dreizehn Jahren die Aufgabe auf uns nahmen, Isaac großzuziehen, war das nur gegen einigen Widerstand…«
    »Ihn großzuziehen – oder ihn zu erschaffen?«
    »… möglich. Widerstand seitens anderer Mitglieder der Vierten-Gemeinschaft. Wir handelten nach Überzeugungen, die nicht alle teilten. Wir wissen, dass wir eine Minderheit sind, eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Und wir wussten von Ihnen, Ms. Moi. Wussten, dass Sie uns irgendwann finden würden, und wir waren darauf vorbereitet, offen und ehrlich mit Ihnen zu sprechen. Wir respektieren Ihre Verbindung zu einer Gemeinschaft, die wesentlich älter ist als die unsrige.«
    »Danke.«
    »Aber wir hatten gehofft, Sie würden ebenso offen mit uns sprechen wie wir mit Ihnen.«
    »Wenn Sie eine Frage haben – bitte.«
    »Das Verfahren, das bei Isaac angewandt wurde, ist schon einmal ausprobiert worden?«
    »Ja, das ist es.«
    »Und Sie verbinden persönliche Erlebnisse damit?«
    Diesmal kam die Antwort nicht so prompt. »Ja.«
    »Würden Sie uns von diesen Erlebnissen erzählen?«
    »Es widerstrebt mir, das zu tun. Es ist keine angenehme Erinnerung.«
    »Dennoch.«
    Sulean schloss die Augen. Sie wollte diese Erinnerung nicht wachrufen, sie überfiel sie ohnehin schon viel zu oft. Doch Mrs. Rebka hatte recht – die Zeit war gekommen.
     
    Der Junge.
    Der Junge in der Wüste. In der marsianischen Wüste.
    Der Junge war in der südlichen Provinz Bar Kea gestorben, unweit der biologischen Forschungsstation, wo er geboren worden und sein ganzes Leben verbracht hatte.
    Sulean war im selben Alter wie der Junge. Sie war zwar nicht in der Wüstenstation in Bar Kea zur Welt gekommen, aber sie konnte sich an kein anderes Zuhause erinnern. Ihr

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