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Axis

Axis

Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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waren mächtig und undurchschaubar. Sulean glaubte nicht, dass sie über bewusste Absichten verfügten, ja selbst das Wort »sie« war vermutlich fehl am Platz, ein kruder Anthropomorphismus. Doch wenn »sie« sich manifestierten, war es eine natürliche menschliche Reaktion, den Kopf einzuziehen und sich zu verstecken – die Reaktion des Kaninchens auf den Fuchs, des Fuchses auf den Jäger.
    Zweimal in einem Leben, dachte sie. Das ist die Bürde, die mir auferlegt ist: dies zweimal mitzuerleben.
    Hin und wieder schlief sie ein in dem Sessel neben Isaacs Bett, während die Brust des Jungen sich im Rhythmus der Atmung hob und senkte. Oft träumte sie – so intensiv, ja heftig, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte –, und in ihren Träumen war sie in einer anderen Wüste, wo der Horizont nahe und der Himmel von einem dunklen, durchdringenden Blau war. In dieser Wüste gab es Felsen und Sand und eine Anzahl bunter Gewächse, röhrenförmig und eckig, wie die zum Leben erwachten Halluzinationen eines Verrückten. Und dann war da noch der Junge. Nicht Isaac. Der andere Junge, der erste. Er war fragiler als Isaac, und die Haut war dunkler, doch seine Augen waren ebenfalls goldfleckig und fremdartig geworden. Erschöpft war er zusammengesunken, und obwohl Sulean in Begleitung mehrerer erwachsener Männer war, war sie die Erste, die sich ihm zu nähern wagte.
    Der Junge öffnete die Augen. Sonst konnte er sich nicht bewegen – seine Arme und Beine waren von faserigen Ranken gefesselt. Die fremdartigen Gewächse hielten ihn fest, einige von ihnen hatten seinen Körper durchbohrt.
    Bestimmt war er tot. Niemand konnte so etwas überleben!
    Aber er öffnete die Augen. Und flüsterte: »Sulean…«
     
    Sie erwachte neben Isaacs Bett, schwitzend in der trockenen Hitze. Mrs. Rebka war ins Zimmer gekommen und starrte sie an.
    »Wir wollen eine Besprechung im Gemeinschaftsraum abhalten. Es wäre schön, wenn Sie auch kämen, Ms. Moi.«
    »Ja… Ich komme.«
    »Hat sich sein Zustand verändert?«
    »Nein.« Noch nicht.
     
    Es war kein Koma. Es war nur Schlaf, allerdings einer, der viele Tage andauerte. Isaac erwachte daraus an diesem Abend, und als er sich umsah, war er allein in seinem Zimmer.
    Er fühlte sich… anders.
    Nicht nur wach, sondern wacher, als er jemals gewesen ist. Und er schien schärfer, deutlicher sehen zu können. Ihm war, als könnte er die Staubkörner in der Luft zählen, obwohl das einzige Licht im Zimmer von der Nachttischlampe kam.
    Er wollte nach Westen, spürte die Kraft dessen, was dort draußen war, für das es aber kein Wort gab, kein Wort jedenfalls, das er kannte. Eine Wesenheit, die erwachte, die nach ihm verlangte, nach der er verlangte.
    Und doch wollte er das Gelände nicht verlassen, nicht heute Abend. Sein erster Ausflug war ergebnislos geblieben – von der Entdeckung der Rose abgesehen –, und es hatte keinen Sinn, etwas Derartiges noch einmal zu tun. Nicht, bevor er wieder bei Kräften war. Davon abgesehen, hatte er das Bedürfnis, der Beengtheit seines Zimmers zu entkommen. Frische Luft zu riechen, sie auf seiner Haut zu spüren.
    Er stand auf, zog sich an und ging die Treppe hinunter, vorbei an den geschlossenen Türen des Gemeinschaftsraums, aus dem die getragenen Worte der Erwachsenen drangen. Er trat hinaus auf den Hof. Eine Wache war am Tor postiert, vermutlich um zu verhindern, dass er wieder auf Wanderschaft ging. Also blieb er auf der anderen Seite des Gebäudes, im Garten, der von Mauern umgeben war.
    Die Abendluft war kühl, der Garten roch üppig. Isaac bewegte sich zwischen den Pflanzen, folgte dem Kopfsteinpfad. Die nachtblühenden Sukkulenten hatten bereits ihre Blüten herausgekehrt, prangten bunt im schwachen Mondlicht.
    Andere Dinge, kleine Dinge, regten sich im Boden, dort wo Regen die Asche hingespült hatte. Isaac legte die flache Hand auf ein unbedecktes Stück Erde. Es war warm, strahlte die Hitze des Tages ab.
    Über ihm leuchteten die Sterne kristallhell. Isaac sah hinauf. Es waren Symbole, die an der Schwelle zur Verständlichkeit verharrten, Buchstaben, die Worte, Worte, die Sätze bildeten, Sätze, die er beinahe – nicht ganz – lesen konnte.
    Etwas berührte seine Hand. Isaac sah wieder nach unten. Sah die Erde anschwellen, bröckeln. Ein Wurm, dachte er, aber es war kein Wurm. Es war etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es kam langsam aus dem Erdboden heraus, wie ein vielgliedriger, fleischiger Finger. Vielleicht irgendeine Art

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