Axis
Isaac einige Gebäude sehen.
Aber das war es nicht, was Mrs. Rebka mit ihrer Frage gemeint hatte.
»Kannst du gehen, Isaac?«
Ja, konnte er, im Moment jedenfalls, doch die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ nach und die Klinge der Welt begann ihm bereits wieder zuzusetzen. Eine Hand auf Mrs. Rebkas Arm gelegt, stieg er aus dem Auto. Staub wehte ihm ins Gesicht; er roch nach etwas Verbranntem. Mrs. Rebka führte ihn zum nächstgelegenen Gebäude, ein Motel offenbar. Er hörte Turk sagen, er habe das letzte verfügbare Zimmer gemietet, für mehr Geld, als es wert sei, jede Menge Leute würden an diesem Abend Schutz in Bustee suchen.
Dann war er im Zimmer, lag auf einem Bett. Die Luft war weniger staubig hier, stank aber immer noch, und Mrs. Rebka kam mit einem frischen Tuch, um ihm den Schmutz aus dem Gesicht zu wischen. Erneut fragte sie mit sanfter Stimme: »Wohin blickst du, Isaac? Was siehst du?«
Weil er immerzu in eine bestimmte Richtung starrte – nach Westen.
Was sah er dort?
»Ein Licht.«
»Hier im Zimmer?«
Nein. »Weit weg. Weiter als der Horizont.«
»Aber du kannst es von hier aus sehen? Du kannst es durch die Wände sehen?«
Er nickte.
»Wie sieht es aus?«
Viele Worte drängten sich in Isaacs Gedanken, viele Antworten. Ein Feuer. Eine Explosion. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang. Der Ort, wohin die Sterne fallen. Und das Ding tief in der Erde, das Bescheid weiß und sie willkommen heißt.
»Ich weiß nicht«, sagte er.
Turk war schon einmal in Bustee gewesen. Der Name, sagte er, leite sich von einem Hindi-Begriff für »Slum« her. Ein Slum war es nicht gerade, aber doch ein ziemlich schäbiger Ort am Rande der Rub al-Khali, eine Durchgangsstation auf der nördlichsten Route ins Ölgebiet. Einige wenige Holzhäuser; ein Laden, der Reifendruckmesser, Landkarten, Kompasse, Sunblocker und Wegwerfhandys verkaufte; drei Tankstellen; vier Restaurants.
Vom Fenster des Motelzimmers jedoch konnte Lise nichts davon sehen. Der Ascheregen fiel herab wie ein grauer, stinkender Vorhang. Der Strom war ausgefallen – heruntergerissene Kabel, Kurzschlüsse in Transformatoren –, und die Reparaturen würden einige Zeit in Anspruch nehmen. Es war ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierher geschafft hatten. Ein Motel-Angestellter kam herein und teilte Taschenlampen aus, verbunden mit der Warnung, keine Kerzen anzuzünden oder anderweitig mit offenem Feuer zu operieren. Die Vierten hatten jedoch ihre eigenen Lampen dabei und zu sehen gab es ohnehin nichts.
Isaac schlief – diesmal aus Erschöpfung, vermutete Lise –, und die Erwachsenen unterhielten sich. »Es könnte ein zyklisches Ereignis sein«, sagte Dvali mit sanfter Stimme. »Die geologischen Aufzeichnungen liefern Hinweise darauf – auf diesem Gebiet hat Ihr Vater einiges an Arbeit geleistet, Miss Adams. Dünne Ascheschichten, in Intervallen von etwa zehntausend Jahren in den Fels gepresst.«
»Und was heißt das?«, fragte Turk. »Dass es alle zehntausend Jahre passiert? Alles wird unter Asche begraben?«
»Nicht alles. Und nicht überall. Die Schichten finden sich überwiegend im äußeren Westen.«
»Muss ja ziemlich viel Asche gewesen sein, um derartige Spuren zu hinterlassen.«
»Das ist richtig.«
»Die Gebäude hier sind nämlich nicht dazu gebaut, viel mehr als ihr eigenes Gewicht zu tragen.«
Eingestürzte Dächer, die Menschen von Staub begraben… Ein kaltes Pompeji, dachte Lise. Ein erschreckender Gedanke. Und sie hatte noch einen. »Und Isaac?«, sagte sie. »Hat der Ascheregen etwas mit dem zu tun, was mit Isaac geschieht?«
Sulean Moi warf ihr einen traurigen Blick zu. »Natürlich«, erwiderte sie.
Am meisten verstand Isaac in seinen Träumen, in denen das Wissen sich in Farben und Texturen präsentierte.
In seinen Träumen entstanden Planeten und Lebensformen wie Gedanken, wurden verworfen oder prägten sich ein, entwickelten sich, wie Gedanken sich eben entwickeln. In seinen Träumen arbeitete sein Verstand so wie das Universum. Wie sollte es auch anders sein?
Worte sickerten in den Bewusstseinsstrom ein. Zehntausend Jahre. Der Staub war schon einmal gefallen, vor zehntausend Jahren und auch zehntausend Jahre davor. Riesige Gebilde besäten das All, nährten zyklische Prozesse, die sich in zahllosen Facetten zeigten, wie ein Diamant. Der Staub fiel im Westen, weil der Westen ihn zu sich rief, so wie er auch Isaac rief. Dieser Planet war nicht die Erde. Er war älter, er existierte in einem älteren
Weitere Kostenlose Bücher