AZRAEL
nicht wirklich und nicht in letzter Konsequenz. Und wenn er sich ein bißchen Mühe gab, würde er es vermutlich noch Tage oder auch Wochen schaffen, das Thema zu vermeiden. Aber irgendwie mußte er es, und eines wußte er genau: Ob morgen oder in einer Woche oder auch in zehn Jahren - es würde schlimmer werden, je länger er wartete. Die alte Wunde war einmal aufgerissen, und diesmal würde sie nicht von selbst vernarben. Sie hatte bereits begonnen, sich zu entzünden, und der Schmerz würde nur schlimmer werden, je länger er zögerte, sie zu behandeln. In einer kurzen, aber sehr unangenehmen Vision sah er sich selbst, in zwanzig oder vielleicht auch fünfzig Jahren: als verbitterten, alt gewordenen Mann, der sein Leben lang einsam geblieben war, weil er niemals wirklich den Mut gefunden hatte, sich einem Menschen anzuvertrauen. Er hatte die letzten sechs Jahre über einen Haß geschürt, der ihm auf der einen Seite vielleicht die Kraft gegeben hatte, die Hölle durchzustehen, als die er sein Leben empfunden hatte. Aber andererseits war vielleicht gerade dieser Haß schuld daran, daß es dazu gekommen war. Und nun, wo er wußte, daß dieser Haß auf einer Lüge beruhte... Nein, er mußte mit seinem Vater reden. Je eher, desto besser.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte er. »Ich werde mit meinem Vater reden. Aber du kannst mitkommen. Vielleicht kratzen wir uns ja nicht gegenseitig die Augen aus, wenn jemand dabei ist.«
»Ich hatte gehofft, daß du das sagst«, antwortete Beate.
Und Mark hatte es befürchtet. Beates Vorschlag war sehr vernünftig, seiner nicht. Aber er hatte die Worte so rasch ausgesprochen, als hätte ihn etwas dazu gezwungen. Vielleicht etwas, das trotz allem noch immer Angst davor hatte, seinem Vater allein gegenüberzutreten.
Es war zu spät, noch irgend etwas zu ändern. Beate war bereits an den Straßenrand getreten und sah aufmerksam nach rechts und links.
»Wir brauchen kein Taxi«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit.« Er deutete die Straße hinab. »Zehn Minuten - wenn wir langsam gehen.«
Wenn Beate diese Eröffnung überraschte, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. »Dann sollten wir schnell gehen«, sagte sie betont. »Ehe du es dir anders überlegst und ich sehen kann, wo ich eine gute Partie mache.«
Diesmal lachte Mark nicht. Er lächelte nicht einmal. Er wollte Beate nicht vor den Kopf stoßen, indem er ihr in aller Deutlichkeit sagte, wie wenig begeistert er davon war, daß sie diesen Scherz offensichtlich zum runnig gag des Tages machen wollte, aber vielleicht begriff sie es ja von selbst, wenn er es nur lange genug ignorierte.
Was seinen ganz persönlichen running gag anging, so war er noch immer da, als sie die Straßenkreuzung erreichten und er sich ein letztes Mal zu ihm herumdrehte. Bestimmt war es Zufall, dachte Mark. Schließlich war dieser Wagen mit Sicherheit nicht der einzige dunkelblaue BMW in Berlin. Noch vor ein paar Stunden wäre er felsenfest vom Gegenteil überzeugt gewesen: Er hätte jede Wette gehalten, daß hinter den getönten Scheiben zwei Privatdetektive saßen, die sich von seinem Vater dafür bezahlen ließen, ihn auf Schritt und Tritt zu überwachen. Aber mit dem, was er heute mittag erfahren hatte, war die Verschwörertheorie endgültig zusammengebrochen.
Es war Zufall, basta.
Sie gingen weiter. Der Wind hatte aufgefrischt, so daß Beate ihre Lederjacke wieder überzog, was sie allerdings nicht daran hinderte, weiter fröhlich zu plappern. Zum überwiegenden Teil war es einfach nur Unsinn - sie alberte herum, ahrscheinlich, um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen, vielleicht auch, um Mark aufzuheitern. Trotzdem entgingen ihm die zunehmend erstaunteren Blicke nicht, die sie immer wieder nach rechts und nach links warf.
Schließlich sprach sie auch aus, was ihr so sichtbar auf der Zunge lag. »Eine schöne Gegend«, sagte sie. »Von so einem Haus habe ich bisher nicht einmal geträumt.«
Dabei war das hier sozusagen nur der Vorort, dachte Mark. Der Schutzwall, der die wirklich teuren Häuser vor allzu neugierigen Blicken schützen sollte. »Und jetzt tust du es?« fragte er.»
Warum nicht? Wenn ich doch in diese Gegend einheirate?«
»Bitte laß das«, sagte Mark. »Ich finde das nicht besonders komisch.«
Beate sah ihn ein bißchen betroffen an. »Aber es sollte doch nur ein Scherz sein.«
»Ich weiß«, antwortete Mark. »Aber ich glaube, ich kann im Moment über nichts lachen, das irgendwie mit meinem Vater zu tun
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