Azrael
Augen zum Mund, der die Fänge verbarg. In diesem Moment waren sie so klein wie nie zuvor.
Was sie erriet, sah er ihr an, und es jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken.
Als sie die Lippen öffnete, hörte er ihren Puls rasen. »Du bist ein Vampir«, wisperte sie mühsam. Offenbar raubte die Erkenntnis ihr den Atem.
Ein heftiger Donnerschlag ließ die Höhlenwände erzittern, und Azrael fragte sich, ob sie dem Angriff standhalten würden. Aber wie Sophies Blick bekundete, wusste sie nicht einmal, dass sie das Wetter manipulierte. Er sah sie schwanken, sichtlich überwältigt vom Aufruhr ihrer Emotionen, und angesichts der Qual in ihren Augen zogen sich ihm die Eingeweide zusammen.
Das war für ihn ein völlig neues Gefühl. Noch nie hatte er die Schmerzen eines anderen Wesens nachempfunden.
Seine Vampirseele wollte in Sophies Gedanken eindringen und auslöschen, was sie über ihn herausgefunden hatte. Damit würde er ihr die Situation erleichtern. Was jetzt in ihr vorging, konnte er sich vorstellen. Ihre Fantasien über ihn, die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte … Und er hatte es gewusst. Die ganze Zeit über war er in ihrer Nähe gewesen, ein Monster, das sie aussaugen konnte, und sie hatte ihm vertraut.
Das würde jede Frau in ihrer Lage denken. Und ein Teil von ihm wollte tatsächlich tun, was Sophie befürchtete, und ihren Körper und Geist vereinnahmen.
Doch er tat es nicht.
»Ja«, sagte er stattdessen, »ich bin ein Vampir.«
Etwas hämmerte beharrlich gegen die Tür ihrer Erinnerung, pochte und wartete, ein großer, hechelnder böser Wolf. Draußen krachten Donnerschläge, ihr schwindelte, und Azrael hielt ihren Blick fest. Nur darauf konnte sie sich konzentrieren, es beherrschte alle ihre Gedanken, jede bebende Nervenzelle.
Azrael, der Vampir.
So vieles ergab jetzt einen Sinn: die spitzen Zähne, die perfekte Anmut, die Stimme, die Millionen verzauberte. Und er war beim Eishockeyspiel aufgetaucht, welch ein Zufall! Natürlich hatte er gewusst, dass sie für Eishockey schwärmte. Weil er ihre Gedanken gelesen hatte.
Und sie hatte ihn immer nur nachts gesehen.
Da er wusste, wie sehr sie die Golden Gate Bridge liebte, hatte er den Nebel geteilt.
Irgendwo über ihrem Kopf grollte der Donner. Ganz in der Nähe. Stromstöße vibrierten in der Luft, rannen über ihre Haut wie flüssige Elektrizität. Dann runzelte Sophie die Stirn. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Waffe, die gefeuert und das Unwetter entfesselt hatte. Das Schießeisen zitterte heftig. Auch die Hand bebte, die es festhielt. Das bläuliche Metall war schweißnass, roch nach Angst und Schwefel.
Jetzt entschwand die Vision.
»Ja, ich bin ein Vampir.« Wie aus weiter Ferne ertönte Azraels Stimme.
Ich weiß, dachte sie halb benommen. Ein Vampir. In ihren fiebrigen Gedanken war es keine Frage mehr: Auch alles, was sie früher für Illusionen gehalten hatte, war wirklich geschehen. Nun existierte sie auf zwei verschiedenen Zeitebenen. Auf der einen stand sie Azrael gegenüber und akzeptierte sein Geheimnis, seinen Vampirismus, auf der anderen durchlebte sie eine erwachende Erinnerung, die sich ihr eröffnete und sie gefangen nahm, sie um Sinn und Verstand brachte und ihre Welt zusammenbrechen ließ.
Ihr aufgeschürftes Knie schmerzte sehr. In ihrer Vision schaute sie hinab, sah Blut, die aufgerissenen Jeans voller Schlamm und nasser Grashalme. Ihre Hüfte schmerzte, der Rücken fühlte sich wund an. In ihrem Mund schmeckte sie Blut.
»Sophie?«
Sie hörte Azraels tiefe Stimme, die irgendwie durch die Welt der Erinnerung bis zu ihr durchdrang. Aber er stand nicht mehr vor ihr, sie sah keinen Kamin, keine Steinwände mit Fackeln, kein Bett mit schwarzen Laken, das so vampirtypisch wirkte, dass sie sich fragte, warum sie es nicht früher gemerkt hatte.
Stattdessen war sie auf einen Friedhof geraten. Nebelschleier wehten über einen graugrünen Hügel und Grabsteine hinweg. Schmerzhaft bohrte sich die Ecke einer Gedenktafel in ihre Hüfte. Ihr Pflegevater zerrte an ihrer Jeans. Sophies Kehle entrang sich ein lautloser Schrei, vor über einem Jahrzehnt vom Nebel verschluckt.
Verbissen kämpfte sie, innerlich erstarrt, versteinert im Treibsand grausiger Erinnerungen. Mit bebender Hand ertastete sie etwas, was sie retten würde, vor ihren Augen flimmerte es rot.
Sie riss den Revolver aus dem Hosenbund ihres verschwitzten Pflegevaters, der sie ins Gras
Weitere Kostenlose Bücher