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Azrael

Azrael

Titel: Azrael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Killough-Walden
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Gedanken. Azrael peilte die Richtung an, aus der die Stimme herangeweht war, und stürmte darauf zu. Trotz seines rasanten Tempos fiel es ihm schwer, den Friedhof zu überqueren. Finger aus dem Gestern klammerten sich an ihn, wollten ihn aufhalten und taten verdammt noch mal ihr Bestes. Wie seltsam, diese Wanderung durch Erinnerungen, die so real wirkten wie die Alltagswelt, nur manchmal noch intensiver. Glück, Trauer, Angst, Bedauern – diese Emotionen erzeugten Licht und Geräusche und entschieden, ob er einem schwierigen oder einfachen Weg folgen würde.
    Das war ihm stets gelungen. Als Todesengel hatte er in die Herzen der Menschen geblickt, ihre Taten gekannt, die guten und die ruchlosen. Für ihn war die Vergangenheit so lebendig wie die Gegenwart – und Sophies Vergangenheit ein chaotisches Grauen.
    Während er näher an sie herankam, wurde die Wärme, die sie ausstrahlte, intensiver. Aber die Atmosphäre zerrte heftiger an ihm, versuchte, ihn zu zerfetzen und auszutrocknen – zu töten? Welch eine Ironie …
    Azrael kämpfte sich durch den wilden Zorn von Sophies Erinnerungen, konzentrierter denn je zuvor in seinem unglaublich langen Leben. Und dann spürte er’s …
    Hier?, dachte er verwirrt. Aber so wie unter der Brücke in der Bucht von San Francisco erkannte er den Geruch wieder, die emotionslose Essenz einer bösen Macht.
    Ein Phantom lauerte auf dem Friedhof. Da Phantome, anders als Azrael, weder ins Gehirn einer Person eindringen noch deren Vergangenheit erforschen konnten, musste dieses bei jenem besonderen Ereignis in Sophies Leben zugegen gewesen sein. Ein solcher Zufall war unwahrscheinlich, umso schlimmer die schreckliche Ahnung, die ihn befiel und nahezu lähmte, zu real, um ignoriert zu werden.
    Azrael hatte Menschen reden hören über die seltsame Flucht vor Gefahren in Zeitlupe, von der sie oft träumten. Dieses Gefühl, sich mit aller Kraft anzustrengen und nirgendwohin zu gelangen, quälte viele Sterbliche in ihren Träumen. Wie schmerzhaft und frustrierend das sein musste, verstand er erst in dieser Nacht.
    Nun kämpfte er mit aller Macht, um das Tal des Todes inmitten schreiender Seelen zu durchqueren, die nur er wahrnahm, in der beängstigenden Nähe eines herzlosen Mörders. Schließlich eilte er über einen Hügel, und da krachte ein Schuss.
    Az blieb stehen und spähte in den Nebel, der sich fünfzig Meter weiter vorn teilte. Dort, auf einer Lichtung, lag die dreizehn- oder vierzehnjährige Sophie unter dem massigen, reglosen Körper eines Mannes in mittlerem Alter. Der beißende Geruch von Schießpulver, Furcht und frisch vergossenem Blut bestürmte Azraels Sinne.
    Obwohl die Nebelschleier Sophies Schluchzen dämpften, erreichte es ihn über die kleine Senke hinweg. Er wollte zu ihr gelangen, als sie die schwere Gestalt verzweifelt von ihrem Körper schob. Aber Az erstarrte, gefangen von der Bedeutung dieses entsetzlichsten Moments in ihrem Leben.
    Wer ist das? Az wünschte, seine Macht würde reichen. Mit geschlossenen Augen kehrte er durch die Erinnerungen in Sophies Gehirn zu jenem Tag zurück. Da – der Mann hieß Alan Harvey. Einer ihrer vielen Pflegeväter.
    Auf diesem Friedhof, vor elf Jahren, hatte er Sophie Bryce zu vergewaltigen und zu ermorden versucht. Stattdessen hatte sie ihn getötet.
    Az öffnete die Augen und sah sie taumelnd aufstehen, mit Blut befleckt. Nicht mit ihrem. Der Gestank schwebte abstoßend zu ihm herüber. Verstört beobachtete er, wie Sophie die Waffe in ihrer Hand anstarrte. Und ringsum spürte er etwas Böses, die Nähe einer drohenden Gefahr, die ihn fast überwältigte.
    Hinter Sophie teilte sich der Nebel, ein Phantom betrat die Lichtung. So lange hatte Azrael keines mehr gesehen, dass der Anblick so hypnotisierend wirkte wie der Unfall auf der Brücke. Es lächelte den Rücken des Mädchens an und entblößte schwarze Zähne, die einen krassen Kontrast zu dem dürren, milchweißen Körper bildeten. Es war über zwei Meter groß, seine nackte Haut von Nebelschwaden umwirbelt.
    Azrael öffnete den Mund, ein Instinkt drängte ihn, Sophie anzuschreien, zu warnen, ihr zuzurufen, sie solle hinter sich schauen und weglaufen. Nicht, dass es ihr etwas nützen würde. Jeder Versuch, den Strom ihrer Erinnerungen zu ändern, wäre sinnlos. Obwohl die Toten sehr real an seinem inzwischen erschöpften Körper zerrten, war er nur ein Beobachter. Von Vergangenheit oder Gegenwart wussten die Toten nichts. In allen Zeiten existierten ihre Essenzen, an allen

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