Azrael
Höhle stürzten sie sich aufeinander, fauchend und knurrend, die Fänge gefletscht, die Krallen erhoben. Ein menschliches Auge wäre außerstande gewesen, dem rasenden Tempo des Kampfes zu folgen. Ein paar Sekunden später prallte Uro hart gegen eine Steinwand, und Az hielt ihn am Hals fest, seine Reißzähne nur wenige Zentimeter von denen seines engsten Freundes entfernt. »Den Klauen des Todes habe ich dich entrissen. Genauso leicht kann ich dich zu ihm zurückjagen.«
»Das weiß ich«, zischte Uro. Seine roten Augen funkelten, seine Finger krallten sich in Azraels Handgelenke. »Und wenn’s dich vor dir selbst retten würde, tu’s.«
In den roten Augen sah Az die Flammen von Uros Geist toben, die sich nur selten zeigten. Aber jetzt brauchte ihn sein Herr und Schöpfer, und deshalb durchbrach das Feuer die übliche Fassade ruhiger Gelassenheit.
Wenn du sie jetzt nimmst, wirst du sie töten und dann dich selbst. Mit verzweifelter Klarheit stürmten die Worte in Azraels Gehirn. Du verlierst deine Königin. Und wir würden euch beide verlieren.
Wilder Hunger erschütterte Azraels ganzen Körper, bohrte sich wie Nadeln in alle Nervenenden, erzeugte tanzende Sterne am Rand seines übernatürlichen Blickfelds, und er umfasste Uros Kehle noch fester.
Verzichte auf ihr Blut, mahnte Uro unnachgiebig, trink meines.
Da hielt Az inne. Das Angebot erinnerte ihn an Michael. Vor zweitausend Jahren hatte der Bruder selbstlos sein Blut hingegeben, um Azraels Leid zu lindern. Und jetzt war auch Uro dazu bereit.
Darüber dachte Az nur sekundenlang nach, ehe er Uros Kopf seitwärts neigte und seine Fänge in den Hals des Freundes grub.
Uro spannte sich an. Denn der Biss tat höllisch weh. Das Blut eines Vampirs war nicht für eine Mahlzeit bestimmt. Trotzdem wehrte er sich nicht. Während sich der Schmerz verstärkte, ließen die Qualen seines Herrn nach.
Gnadenlos stillte Az seinen Durst. Bald kehrte sein klarer Verstand zurück. Er entfernte seine Zähne aus der Bisswunde, richtete sich auf, und Uro schluckte mühsam. In seinen Augen hatte sich das Feuer zu zwei winzigen roten Punkten verringert, und er war ziemlich blass geworden.
»Danke«, sagte Az aus tiefstem Herzen und drehte sich zu Sophie um, die immer noch nichts ahnend auf seinem Bett schlief. Beinahe hätte er etwas Schreckliches getan. Er wandte sich zu Uro, dessen Augen wieder normal aussahen. Innerhalb weniger Sekunden war die Wunde am Hals verheilt.
»Was ist passiert?«, erkundigte sich Uro und musterte erst Sophie, dann seinen Herrn.
Eine gute Frage. Noch immer fühlte Az sich unbehaglich, so ähnlich wie ein Mensch, der tagelang gefastet hatte. Aber er konnte wieder klar denken und überlegte, warum Sophies Erinnerung ihn dermaßen geschwächt hatte. »Das weiß ich nicht.«
Noch wusste er es nicht. So schwierig es auch gewesen war, den komplizierten Gehirnwindungen seines Sternenengels zu folgen – das allein hatte sich nicht so verheerend auf seine Konstitution ausgewirkt. Aber die Friedhofsgeister, von irgendwem geweckt, hatten ihn entkräftet. Sogar in der vermeintlichen Sicherheit von Sophies Erinnerung. Er dachte an die Anwesenheit des Phantoms in ihrer Vergangenheit, das die grausigen Ereignisse vertuscht hatte. Was hätte Sophie getan, wäre sie an jenem nebligen, verhängnisvollen Tag zur Besinnung gekommen?
Wie auch immer, er glaubte, das Phantom müsste viele Dinge, die ihr widerfahren waren, inszeniert und ihre Entscheidungen beeinflusst haben. Ihr Weg war vorherbestimmt worden. Und der Auftraggeber des Phantoms – diese Kreaturen gehorchten stets noch mächtigeren, mysteriöseren – hatte Sophie präzise und raffiniert auf diesem Pfad durch die Jahre geführt.
Da waren Kräfte am Werk, die Azrael nicht verstand. Aus einem ersten Impuls heraus gab er Samael die Schuld. Der Bann, von dem Az auf dem Friedhof in Sophies Erinnerung gefesselt worden war, glich jenem, in den Sam ihn vor Monaten geschlagen hatte. Deshalb lag dieser Verdacht nahe. Und doch passte das alles irgendwie nicht zusammen.
Gewiss, keiner der vier Brüder hatte jemals herausgefunden, was zum Teufel Sam plante. Aber die Phantome und der Unfall auf der Brücke, das alles sah Samael nicht ähnlich. In den zweitausend Jahren, seit er den Erzengeln das Leben schwer machte, hatte er den Menschen niemals ernsthaft geschadet und keinen einzigen getötet.
Entweder hatte sich die Persönlichkeit des Gefallenen radikal verändert, oder jemand anders sorgte für
Weitere Kostenlose Bücher