Azrael
darin nach Sternen zu suchen.
Innere Ruhe verdrängte die Verzweiflung. War da ein Stern? Ein Komet?
»So ist es gut«, meinte er zufrieden und strich behutsam eine Haarsträhne aus ihrem tränennassen Gesicht. Dann griff er in die Tasche seines Sportjacketts und zog ein altmodisches Stofftaschentuch hervor. Als er Sophies Verblüffung bemerkte, erklärte er: »Eine alte Gewohnheit. In meiner Heimat trugen wir solche Tücher stets bei uns, um uns den Schweiß von der Stirn zu wischen.« Das Dunkel seiner Augen wurde so tief, dass sie von einer seltsamen Nostalgie erfasst wurde. »So lange ist das her.«
»Danke«, sagte sie und nahm das Taschentuch entgegen.
»Gern geschehen.«
»Ich …« Erleichtert und verwirrt hielt sie inne, weil sie sich so ruhig fühlte, nicht mehr sterben wollte und wieder normale, zusammenhängende Sätze bilden konnte. »Ich glaube, ich muss mir die Nase putzen, und das wird ziemlich laut sein.«
Jetzt schien tatsächlich Sternenstaub in seinen Augen zu glitzern. Lachend warf er seinen Kopf in den Nacken. Das klang sehr melodisch, fast so wie Azraels Gelächter. Aber nicht ganz. »So schlimm wie manches, was ich erlebt habe, kann es nicht werden. Früher habe ich meine Brüder jeden Morgen geweckt, indem ich mich direkt neben ihren Ohren geräuschvoll geschnäuzt habe. Vor sehr langer Zeit.« Er stand auf, ging zum Kamin und kehrte Sophie den Rücken. »Wenn Sie sich dann besser fühlen, halte ich mir die Ohren zu.«
Nun musste sie ebenfalls lachen. Warum, verstand sie nicht. So komisch war es gar nicht. Aber Uro hatte sie von ihrem Kummer erlöst, und dafür liebte sie ihn. Belustigt putzte sie sich die Nase und war froh, weil er tatsächlich die Hände auf seine Ohren presste.
Danach faltete sie das Tuch zusammen und steckte es in ihre Jackentasche. Und da vermisste sie etwas – ihre lederne Collegetasche war mit den Wrackteilen der Calliope im Meer versunken. »Wurde der Fahrer des Lasters gerettet?«
Uro wandte sich wieder zu ihr. Offenbar überraschte ihn die Frage nicht. Konnte er wie Az ihre Gedanken lesen?
»Ja, er ist in Sicherheit. So wie alle Unfallopfer.«
Erstaunt hob sie die Brauen. »Habt ihr Jungs dafür gesorgt? Können Vampire verletzte Leute heilen?«
Uro seufzte betrübt. »Nein, leider nicht. Aber Azraels Bruder kann es und auch Ihre Freundin Juliette und Uriels Frau Eleanore. Sie kamen auf die Brücke und halfen uns.«
»Was, Jules ist hier?« Sophie riss die Augen auf. Was sie jetzt empfand, wusste sie nicht genau. Einerseits sehnte sie sich nach ihrer besten Freundin und fühlte sich ausgeschlossen, weil Juliette nicht mit ihr zusammenarbeitete, sondern mit Eleanore. Andererseits verspürte sie ein seltsames Unbehagen bei der Erinnerung an den Unfall und wünschte, Juliette wäre nicht in der Nähe des Unglücks.
Und dann stieg noch eine dritte Emotion in ihr auf, völlig neu und fremdartig: das Bedürfnis, bei den zwei Frauen auf der Brücke zu sein. Nicht als Freundin. Als Sternenengel.
Während sie überlegte, ob sie ihren neuen Status genauso selbstverständlich akzeptieren würde wie Jules, straffte Uro plötzlich die Schultern. Die Luft in der Höhle veränderte sich und nahm einen scharfen Geruch an.
Blitzschnell trat Uro in den Schatten an einer Seite des Raums, und Sophie erstarrte.
Jemand durchquerte das Dunkel.
20
Lächelnd wandte Kevin sich von der kahlen Bürowand ab, die er neuerdings für seine hellseherischen Aktivitäten benutzte. Das Bild der schlafenden Sophie Bryce schimmerte und verschwand, als er wegschaute. »Wie ihr feststellen konntet, hat sie ihre Macht erkannt«, sagte er zu den anderen Adarianern.
Mitchell, mit schwarzem Haar und undurchdringlichen dunklen Augen, lehnte lässig an Kevins Schreibtisch. Aufmerksam hörte er zu und grinste schwach.
An seiner Seite saß Luke unbewegt in einem Sessel, das klassisch schöne, von blonden Locken umrahmte Gesicht freundlich, aber etwas rätselhaft. Von allen Adarianern übte er mit seiner attraktiven Surfer-Boy-Erscheinung die stärkste Wirkung auf Männer und Frauen aus. Mit seinen strahlenden Augen und einem gewinnenden Lächeln entzückte er Menschen aller Altersstufen.
Aber Kevin wusste, dass diese heitere Fassade täuschte. Denn Luke war zu rasanten, brutalen Attacken fähig, die seine Gefährten immer wieder erstaunt und ehrfürchtig registrierten.
Wie üblich stand Ely abseits. Groß und stark, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, strahlte er angestaute
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