Azrael
und sie konnten nicht überall gleichzeitig sein. Aber sie taten ihr Bestes.
Als Officer beim Friedenskorps hatte Michael in vielen Staaten ein herzzerreißendes Elend gesehen, das alles übertraf, was ihm an der Spitze der Heerscharen im Dienst des Alten Mannes widerfahren war. Welch ein tragisches Volk, diese Menschen … Gefangen im grausamen Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand, gerieten sie immer wieder in Situationen, die sie nicht zu meistern wussten. Gewissermaßen waren sie auf natürliche Weise unnatürlich.
Das bezeugten in dieser Nacht auch die dreizehn ineinandergekrachten Vehikel auf der Golden Gate Bridge. Diesen Unfall hatte zwar kein Mensch verursacht, aber die Tendenz zur Tragik war ganz und gar menschlich.
Auf der Brücke herrschte resignierende Hysterie, grelle Autoscheinwerfer erhellten das Grauen in allen Einzelheiten. Mütter schluchzten, Väter schrien. Ziellos wanderten Zuschauer umher, zu schockiert, um etwas anderes zu tun, als die Notfallnummer anzurufen, was in diesem Stadium wenig nützte. Die Rettungsteams kamen wegen des Staus nur langsam voran, und Michael war unendlich dankbar für die sofortige Ankunft der beiden hilfreichen Sternenengel.
Auch die Vampire machten sich nützlich. Sie waren so zahlreich erschienen, dass er sich fragte, wie viele es eigentlich auf der Erde gab. Wenn er sich in ihrer Gegenwart auch nicht allzu wohl fühlte, war er doch froh über ihren Beistand. Mit ihren bewusstseinsverändernden Fähigkeiten beruhigten sie Verletzte und deren Angehörige, sodass Michael und die Sternenengel ihre Arbeit ungestört erledigen konnten.
Siebenundzwanzig Leute waren verwundet, nur neun ernsthaft. Zuerst heilte Michael den Lastwagenfahrer, den ein Vampir aus dem Wasser geholt hatte. Der halb tote Mann lag auf dem Asphalt, von zwei leeren Autos abgeschirmt. Mike rettete ihn, und ein Vampir versenkte ihn in Tiefschlaf.
Wegen des Staus kamen die Krankenwagen nicht zum Unfallort. Über der Brücke surrten Hubschrauber, ihre Rotoren durchschnitten die Nachtluft wie die Flügel gigantischer Libellen.
Wie Michael wusste, filmten die Insassen der Helikopter die Ereignisse auf der Golden Gate Bridge. Darum würde Max sich mit seinem einzigartigen Talent kümmern.
Während der Hüter beim rot gestrichenen Geländer zwischen der Fahrbahn und dem Fußgängerweg stand, Erinnerungen löschte und Aufzeichnungen vernichtete, heilten Mike und die beiden Sternenengel die restlichen Verletzten.
Ein anstrengender Job … In zehn Minuten hatte Michael einen Milzriss und zwei zerfetzte Lungen geflickt und über ein Dutzend Knochenbrüche geheilt. Eleanore beseitigte die Folgen eines Schlaganfalls und heilte eine Frau nicht nur von ihrer Gehirnerschütterung, sondern auch von einem beginnenden Brustkrebs. Die vielleicht schwierigsten Aufgaben erfüllte Juliette, denn ihre »Patienten« waren größtenteils Kinder. Wegen ihrer flexiblen kleinen Körper konnten sie Verletzungen leichter vermeiden, aber nicht, gegen die Windschutzscheibe eines Busses geschleudert zu werden.
Auf unsicheren Beinen erhob sich Michael. Als er zu Gabriel und Juliette ging, spürte er Azraels vertraute Anwesenheit, drehte sich um und sah ihn mit Uro hinter einem umgekippten Taxi auftauchen. Gefolgt von McFarlan und anderen Vampiren, eilte er den beiden entgegen. »Ich glaube, wir können Schluss machen. Max sieht ziemlich mitgenommen aus. Keine Ahnung, wie lange er noch durchhält.«
Az nickte, schaute zu den Hubschraubern hinauf und verengte seine Augen, die in bedrohlichem Gelb zu leuchten anfingen. Ringsum frischte der Wind auf.
Mike schirmte seine Augen mit einer Hand ab und beobachtete, wie die Helikopter sich seitwärts neigten und davonflogen. »Sehr gut«, gab er zu. Manchmal lohnte es sich, einen Bruder zu haben, der Luftströmungen erzeugen konnte.
»Verdammt«, seufzte McFarlan. »Unglaublich, dass ich nicht daran gedacht habe.«
19
Az wartete, bis die Helikopter verschwunden und in Sicherheit waren. Dann wandte er sich Michael zu, der völlig erschöpft aussah. Seine blauen Augen wirkten heller, als wäre die Farbe der Iris verblasst. Schwankend stand er da, seine Hände zitterten. Die Last der Müdigkeit beugte die Schultern des hochgewachsenen, kräftig gebauten Kriegers.
Ringsum lag der Gestank des Unglücks in der Luft, mischte sich der Geruch von menschlichem Blut, Schweiß, Benzin, Frostschutzmittel und Abgasen. Nicht weit entfernt standen Eleanore, Gabriel und Uriel beisammen.
Weitere Kostenlose Bücher