Azrael

Nacht schützend. Wie Kevin sich eingestand, irritierte es ihn, dass sie so aufmerksam bewacht wurde. Doch er konnte es dem Erzengel nicht verübeln. Immerhin war die Frau ungewöhnlich kostbar. Und ringsum trieben sich große, böse Mächte herum. Wie zum Beispiel er selbst.
    Schließlich bot sich die ersehnte Chance. Sophie Bryce wurde in einer Höhle zurückgelassen, die – wie Azrael glaubte – niemand außer ihm selbst und seinem ältesten Vampir Uro betreten konnte. Doch da irrte er sich. Nachdem Kevin die Kunst der Schattenreise erlernt hatte, hatte er sie auch seinen Gefährten beigebracht.
    Nicht einmal, wenn der General allein agieren würde, wäre Uro ihm gewachsen. Kevin war schon stärker als alle von Azrael erschaffenen Vampire gewesen, bevor er sich in einen verwandelt hatte. Mit dem Talent, seine Gestalt zu verändern, hatte er Uriel vor Monaten überrascht. Außerdem konnte er fliegen und sich blitzschnell bewegen. Und jetzt? Nachdem er sich die Fähigkeiten anderer Adarianer angeeignet hatte, konnte er Tiere beherrschen, Flammen und Blitze erzeugen, Elektrizität manipulieren, mittels gewaltiger Explosionen gigantische Objekte davonschießen, als wären sie von einem Hurrikan erfasst worden. Seit seiner Verwandlung in einen Vampir hatten sich seine Stärke und Geschwindigkeit vervielfacht. Zudem vermochte er seinen Körper in Nebel aufzulösen und menschliche Gehirne zu kontrollieren.
    Schon in einem Zweikampf hätte Uro keine Chance gegen Kevin. Trotzdem würden die drei Erwählten den General in dieser Nacht begleiten.
    Er durchquerte den Schatten in der Ecke des Raums. Wie zuvor wurde er schwerelos in dunkle Stille befördert, die Welt geriet in einen zweidimensionalen Zustand. Kevin konzentrierte sich auf seinen Atem, seinen Weg zum Ziel. In seiner Fantasie hielt er das Bild der Höhle fest, sah die Schatten darin so wie vorhin in der hellseherischen Vision an der kahlen Wand. Und das Dunkel reagierte auf sein Wissen, führte ihn dorthin, wo er sich befinden wollte.
    Obwohl es ihm wie eine Ewigkeit vorkam, verstrichen nur Sekunden, ehe er die andere Seite erreichte, als würde er eine Rolltreppe verlassen. Er änderte seinen Gang und sah sich in der Höhle um. Bevor er aus dem Dunkel auftauchte, traf er in einem Sekundenbruchteil mehrere Entscheidungen.
    Sophie saß auf dem schwarzen Bett. Offenbar war sie zwischen dem Ende seiner Vision und diesem Moment erwacht. Wie erwartet stürmte Uro sofort zu ihm, und Kevin eilte ihm auf halbem Weg entgegen, bevor Mitchell, Luke und Ely hinter ihm aus dem Schatten traten.
    So kraftvoll und hart stieß er mit Uro zusammen, dass sein Gehirn heftig erschüttert wurde. Die unerwartete Kollision verwirrte ihn, aber er hatte keine Zeit, um sich zu fassen. Anscheinend wusste Uro, was in einem solchen Kampf zu tun war. Mit seinem Gegner in den Armen wirbelte er herum, und Kevin kam kaum dazu, Atem zu schöpfen und seine Muskeln anzuspannen, bevor er gegen eine Steinwand geworfen wurde. Zu beiden Seiten der Kämpfenden flogen die Fackeln aus den Halterungen, fielen zu Boden und erloschen. Sophie sprang am anderen Ende des Raums aus dem Bett. Hektisch sah sie sich um, zweifellos auf der Suche nach einer Waffe. Dann fuhr sie zu ihm herum, als Ely und die anderen Adarianer in die Höhle stürmten.
    Kevin ignorierte Sophie, weil er wusste, seine Erwählten würden sie überwältigen. Und er konnte es sich auch gar nicht leisten, sie zu beachten. Der schmerzhafte Aufprall intensivierte seine Konzentration, und er entsann sich wieder, wer und was er war. Alle seine Fähigkeiten drangen an die Oberfläche, und er musste sie einfach nur nutzen. Ohne seine Willenskraft übermäßig anzustrengen, verwandelte er sich in Nebel und entglitt Uros starkem Griff.
    Wunderbarerweise konnte er immer noch klar und zusammenhängend denken, obwohl sein Gehirn im physischen Sinn nicht mehr existierte, und wandte ein anderes seiner Talente an. Schmerzhaft erfasste ein magischer Sturm Uros Körper, trug ihn zum anderen Ende der Höhle und schmetterte ihn gegen die Wand.
    Noch eine Fackel fiel zu Boden und ging aus. Hastig sondierte Kevin die Lage. Ely und Mitchell hatten sich an zwei Seiten des Raums postiert, fixierten den feindlichen Vampir mit glühenden Blicken, und Luke hielt die bewusstlose Sophie Bryce im Arm. Den Befehlen des Generals folgend, hatten seine Männer schnell und effektiv gehandelt. Aber die Sekunden rannen dahin, die Aktion musste beendet werden.
    Uros