Azrael
kleinen Wunden geheilt. Das war einfach gewesen. Aber der schwarze Löwenzahnstern ließ sich nicht entfernen. Sie hatte ihn fast vergessen, doch nun tat er weh.
»Bist du da, Soph?«, rief Juliette.
Sophie verspürte eine unerwartete Irritation. Ihre Handfläche durchzuckte ein leichter Schmerz, und sie blinzelte. »Ja«, antwortete sie. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Einen Moment, Jules, ich komme gerade aus der Dusche.« Dumme Gans, schalt sie sich, dein Haar ist gar nicht feucht.
Irgendwo da draußen grollte der Donner. Sie konnte nicht klar denken und fühlte sich seltsam. Frustriert strich sie sich die Locken aus der Stirn und ging in den Flur, der zum Wohnzimmer führte. Auf dem Hartholzboden hallten die Ledersohlen ihrer Stiefel viel zu laut wider. Ein paar Sekunden später entriegelte sie die Tür und öffnete sie.
Die Wangen aschfahl, die Augen in dem schönen Gesicht übergroß, stand Juliette vor ihr. Allein.
Eine Zeit lang schauten sie sich nur an. Sophie fragte sich, ob sie Jules alles erzählen sollte. Ein Teil ihrer Seele flehte um Erleichterung, wollte alles loswerden, die Wahrheit über den Pflegevater, den tödlichen Schuss, den Vampir Azrael, dass sie ein Sternenengel war, alles über die Brücke und die Adarianer und Uro und das Feuer und den Fremden in Weiß auf Alcatraz. Aber der andere Teil schwieg unschlüssig, von einem eigenartigen, wachsenden, unangenehmen Zorn erfasst.
»Bist du … okay, Soph?«, fragte Juliette leicht gekränkt und besorgt.
Plötzlich merkte Sophie, dass sie noch nichts gesagt hatte – und dass sie nicht länger schweigen durfte, weil es so viel zu sagen gab. »Ich …« Unsicher suchte sie nach den richtigen Worten. Aber jetzt schmerzte ihre Handfläche heftiger, draußen näherte sich das Gewitter, und ihr Gehirn war scheinbar mit Watte vollgestopft. »Das weiß ich nicht.«
Da schob Juliette sie in den Flur zurück, schloss die Wohnungstür hinter sich und führte ihre Freundin zur Couch. Sophie protestierte nicht. Nachdem sie sich gesetzt hatten, schaute Jules ihr eindringlich in die Augen. »Was ist auf Alcatraz passiert?«
Auf Alcatraz. Sophie starrte sie an, und der Nebel in ihrem Kopf schien sich ein wenig zu lichten. Nun glaubte sie die junge Gefangene zu sehen, den Mann in Weiß, der die Kehle des Mädchens durchschnitt … Ohne Vorwarnung erschütterte ein heftiges Schluchzen ihren ganzen Körper.
Dreißig Minuten später putzte sie sich zum zwanzigsten Mal die Nase, und Juliette reichte ihr eine Tasse mit frisch aufgegossenem Kamillentee. Den Tee hatte sie in ihrer Handtasche mitgebracht, offenbar aus einer Ahnung heraus, in welchem Zustand sie Sophie antreffen würde. In solchen Dingen war Jules sehr einfühlsam.
In der letzten halben Stunde hatte Sophie ihr alles anvertraut, was sie loswerden wollte. Und Juliette hatte von den drei ermordeten Adarianern in der Gefängniszelle erzählt, was das Gespräch wieder auf Gregori brachte.
»Seine Pupillen sind Sterne, Jules.« Seinen Mordversuch an dem unschuldigen Teenager hatte Sophie bereits in allen grausigen Einzelheiten geschildert. Sie konnte nicht anders, viel zu lebhaft und schmerzlich hafteten die Bilder in ihrer Fantasie. »Wie er war, kannst du dir nicht vorstellen, Jules. Einfach … überwältigend.« Allein schon der Gedanke an den Mann in Weiß nahm ihr den Atem. Wie er Raum und Zeit in Sekunden zu durchmessen vermochte, wie er in ihr Gehirn eingedrungen war – und was er dem Mädchen angetan hatte … Erschaudernd schüttelte sie den Kopf.
Voller Sorge beobachtete Juliette ihre Freundin. »Wir müssen Max von ihm erzählen.« Verwirrt kniff sie sich in die Nasenwurzel. »Jetzt gibt es immerhin einen Namen und ein Gesicht, das wir mit dem Mord an den Adarianern verbinden können. Nicht viel, aber wenigstens etwas.« Sie seufzte und ließ ihre Hand sinken. »Wer zum Teufel ist er? Und was will er?«
Sophie bemerkte einige Veränderungen an Juliette, einer eher kleinen Frau, die in den letzten Wochen scheinbar gewachsen war. Jetzt strahlte sie eine Kraft und ein Selbstvertrauen aus, wie Sophie sie nie besitzen würde. Jules hatte ihren Platz in der Welt gefunden. Sie wusste, wofür sie bestimmt war. Diese Rolle akzeptierte sie und kam mühelos damit zurecht. Sie war glücklich. Und nun wurde ihr Glück bedroht.
Bin ich schuld daran?, fragte sich Sophie. Wäre sie nicht als Sternenengel geboren worden, nicht in Juliettes Leben getreten, würde sie das Unglück nicht seit ihrer
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