Azrael
Frau auf der Welt halten. Sie besaß magische Kräfte, war ein Engel, hatte eine wunderbare beste Freundin und eine Beziehung mit einem berühmten, irre charismatischen Mann.
Stattdessen war sie völlig verwirrt und wütend. Was verdammt noch mal ist letzte Nacht passiert? Und wer zum Teufel hat hier das Sagen?
Ihre Existenz glich einer Zirkusshow mit Zaubertricks. Und Sophie hatte nicht die geringste Ahnung, was da gespielt wurde und was sie dagegen unternehmen sollte.
Wie konnte die Welt es wagen, ihr das anzutun? Warum hatte sie in der Kindheit allein gegen so viel Unheil kämpfen müssen? Wieso verfügte sie erst jetzt plötzlich über diese Fähigkeiten, die sie schon immer gebraucht hätte? Und nun sollte sie sich auch noch an jemanden binden, der noch mächtiger war als sie?
Und deshalb würde sie fliehen.
Sie wandte sich wieder zu Juliette, die den Löwenzahnstern anstarrte. Instinktiv ballte Sophie ihre Hand und schob die Faust unter ihren Schenkel.
Vor den Fenstern zuckten Blitze. Es war höchste Zeit, dass Jules ging.
Sophies Zorn war berechtigt. Von Anfang an hatte Juliette gewusst, wie mühsam sich ihre beste Freundin durchs Leben schlagen musste. Jetzt kannte sie die ganze schreckliche Geschichte und staunte, weil Sophie das alles so stoisch hinnahm. Dass diese Frau wie ein normaler Mensch funktionierte, nachdem sie mit vierzehn Jahren von ihrem Pflegevater beinahe vergewaltigt und ermordet worden wäre und ihn erschossen hatte, überstieg Juliettes Begriffsvermögen. Schon immer hatte sie Sophs Charakterstärke und Willenskraft respektiert, die Weigerung, sich vom Schicksal unterkriegen zu lassen. Jetzt wuchs der Respekt zu herzzerreißender Ehrfurcht. Nur zu gut verstand sie Sophies Wut.
Aber … da stimmte irgendetwas nicht. Erstens wies die Tatsache, dass sich niemand an die Existenz des Pflegevaters erinnerte, auf eine übernatürliche Einmischung hin. Und zweitens war Sophie neuerdings von einer Aura umgeben, die nicht zu ihr passte. Gewiss, sie war gestresst. Doch dahinter musste noch etwas stecken.
Der Mann in Weiß, von dem sie erzählt hatte, jagte Juliette kalte Angst ein, obwohl sie ihm nie begegnet war. Was er den Adarianern angetan hatte, fand sie schlimm genug. Aber der grausame Mordversuch an einem unschuldigen Teenager, dazu die Beschreibung des maßgeschneiderten weißen Anzugs, der eisblauen, fast weißen Augen – das alles steigerte Jules’ Furcht fast zur Panik. Ihre Brust verengte sich, ihr Herz schien sich in Blei zu verwandeln. Oh, wie sie diesen Gregori verabscheute … Sogar den Namen fand sie widerwärtig.
Irgendetwas musste er mit Sophie gemacht haben. Der schwarze Stern auf der Handfläche war neu. Sophie hatte sich wohl kaum nach der Hochzeit in Slains Castle tätowieren lassen. Zudem glich er den sternförmigen Pupillen des Schurken, die sie erwähnt hatte.
Das alles war ziemlich nervenaufreibend. Genauso wie Sophs verändertes Benehmen. Den Zorn konnte Jules nachempfinden. Aber ihre Freundin wirkte seltsam verwirrt und zerstreut, und sie war immer geistesgegenwärtig, vernünftig und energiegeladen gewesen. Andererseits hing das vielleicht mit ihrem Schlafmangel und all den teilweise schrecklichen Informationen zusammen, die auf sie eingestürmt waren.
Was Juliette weder begreifen noch verzeihen konnte, war Sophies offenkundiger Wunsch, ihr einiges zu verheimlichen. So wie jetzt.
»Bitte, Jules, ich brauche Zeit, um nachzudenken.«
Juliette war nicht dumm. Zweifellos wollte Soph sie loswerden. »Wenn du abhaust, wirst du nicht weit kommen. Sicher nicht, wenn Az deiner Spur folgt.«
Erst blinzelte Sophie, dann verhärtete sich ihre Miene. Ein Schatten verdüsterte die schönen goldbraunen Augen und verbarg alle Gefühle. »Bitte, geh, Jules.«
»Hier bist du nicht sicher. Die Adarianer sind schon schlimm genug. Und dieser Gregori …« Unwillkürlich erschauerte Juliette. »Niemals wird Azrael dich solchen Gefahren ausliefern. Tut mir leid, Soph, aber du wurdest zufällig dem eigensinnigsten aller Erzengel zugeteilt. Sogar tagsüber wollte er dir folgen.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Und das hätte ihn getötet. Nur mühsam konnte Max ihm das ausreden.«
Entgeistert starrte Sophie ihre Freundin an, dann nahm ihr Gesicht weichere Züge an, das Dunkel in den Augen schwand. Nun schimmerten sie wie Honig.
Eine Zeit lang schienen ihr die Worte zu fehlen. Aber sie ballte die Hand mit dem Tattoo noch fester, was Juliette nicht entging.
»Jules
Weitere Kostenlose Bücher