Azrael
Kindheit wie magnetisch anziehen, hätte sich das alles wohl kaum ereignet.
Ihre Handfläche prickelte. Seit einer halben Stunde war der Schmerz stets fühlbar, wurde mal stärker, mal geringer.
Oder vielleicht wäre es doch geschehen. Selbst wenn es Sophie nicht gäbe, wäre Jules ein Sternenengel, die Adarianer würden sich irgendwo da draußen herumtreiben, und Gregori würde seine mysteriösen Spiele planen. Mit Juliette. Oder Eleanore. Oder mit der anderen Frau, die an meiner Stelle als Sternenengel zur Welt gekommen wäre. Und Azrael würde eine andere verfolgen …
Bei dem Gedanken an den großen, dunkelhaarigen Erzengel spürte sie, wie ihr Puls schneller pochte, und stellte ihn sich vor. Gegen diese Vision war sie machtlos. Schwarz gekleidet, umgeben von einer ruhigen, machtvollen Aura, wirkte er unbesiegbar. Nun glaubte sie sogar seinen Duft zu riechen, nach Nachtluft, Sandelholz, Leder und Seife. Ihr Mund wurde wässerig, sie sah sein pechschwarzes Haar, fühlte seinen intensiven Blick, die Anziehungskraft seiner perfekten Züge und hörte, wie er ihren Namen aussprach …
»Soph?«
Verwirrt zuckte sie zusammen und öffnete die Augen, die sie unbewusst geschlossen hatte. »Ja?«, fragte sie errötend, als hätte Juliette sehen können, was sie sich vorgestellt hatte.
»Wohin wolltest du?«
Sophie folgte dem Blick ihrer Freundin. Verdammt. Durch die Schlafzimmertür war ein Teil des geöffneten, halb gepackten Koffers auf dem Bett zu sehen. Wohin sie fliehen wollte, wusste sie nicht. Nur fort aus San Francisco, aus der Bucht, von Azrael. Sie war besessen von ihm. Das bewiesen ihr diese letzten Gedanken erneut. Diese Schwäche war ihr schon verhasst gewesen, als sie wie ein liebeskranker Teenager für den Frontsänger von Valley of Shadow geschwärmt hatte. Aber seit sie wusste, dass sie ein Sternenengel und dieses Gefühl ihr Schicksal war, fand sie es noch schlimmer. Denn sie hatte die Gelüste nach dem Maskierten von Anfang an nicht kontrollieren und niemals entscheiden können, in wen sie sich verlieben würde. Diese Freiheit blieb ihr versagt.
Und das ärgerte sie maßlos.
Jetzt donnerte es fast direkt über dem Apartmentgebäude. Die Stirn gerunzelt, hob Juliette den Kopf. Sophie ignorierte sie, gefangen in der Hilflosigkeit, die sie bei jedem Gedanken an Azrael befiel. Sie wehrte sich gegen ihn, sehnte sich nach ihm, träumte von ihm, fantasierte über ihn. Und ein Teil von ihr schien ihn sogar zu hassen. Der Macht, die er auf sie ausübte, musste sie entrinnen. Sie musste weglaufen.
Hitze strömte von ihrer Hand durch ihr Handgelenk und den ganzen Arm. Auch das ignorierte sie, obwohl sie merkte, dass Jules ihre Hand anstarrte. Ihre Emotionen beherrschten sie – zum Teufel mit allem anderen.
Weggelaufen war sie auch schon mit vierzehn Jahren, und dann hatte sie ihren Pflegevater getötet. Allein war sie auf dem Friedhof etwas später zu sich gekommen, den immer noch rauchenden Revolver in der Hand, ohne die geringste Ahnung, wozu sie ihn benutzt hatte. Aber ein grausiges Gefühl hatte sie beschlichen und einen Entschluss bewirkt: Was immer sie getan hatte, sie würde nicht bleiben und es herausfinden.
Und so hatte sie die Waffe in ihre Jeans gesteckt und war zu den Bäumen gerannt, die den Friedhof umgaben. Nachdem sie den Revolver vergraben hatte – was hätte sie sonst damit machen sollen? –, war sie ins Haus ihrer Pflegemutter zurückgekehrt.
Wie sie sich erinnerte, hatte sie nur erwartet, die Mutter daheim anzutreffen. Keinen Vater. Als wäre es immer so gewesen. Und was ihr besonders bizarr erschien – auch ihre Pflegemutter hatte das so empfunden. Sophies zerrissene Jeans, der Schlamm und das Gras in ihrem Haar waren nicht erwähnt worden. Normalerweise hätte die Mutter das sicher bemängelt.
Nun überlegte Sophie, ob ihre traumatisch bedingte Amnesie ansteckend gewesen war. Weder die Pflegemutter noch sie selbst hatten den Pflegevater jemals mehr erwähnt. Weder die Nachbarn noch das Jugendamt oder andere Behörden. Niemand. Als hätte Alan Harvey nie existiert.
Das Leben war weitergegangen, zur Abwechslung ohne schreckliche Männer. Zwei Jahre später war die Pflegemutter nach Pittsburgh gezogen. Dort hatte Sophie die Highschool besucht und nebenbei als Reinigungskraft gearbeitet, um ein bisschen Taschengeld zu verdienen. Nach zwei weiteren Jahren war sie Juliette begegnet.
Und jetzt führte sie ein unfassbares Leben. Vielleicht müsste sie sich für die glücklichste
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