Azrael
Gips, Dachbalken und Leitungsrohre zerbrachen, in alle Richtungen flogen die Trümmerteile wie Granatsplitter. Azrael erhob sich so schnell in die Luft, dass kein menschliches Auge die beiden Gestalten am Nachthimmel bemerkt hätte.
Und Sophie, sicher und geschützt in seinen Armen, gab keinen Laut von sich.
28
Mitchell beobachtete seinen General, der langsam über die sonderbare schwarze Löwenzahnwiese im alten Gefängnishof wanderte. Seit Kevin mit den anderen Adarianern auf die Erde geschleudert worden war, hatte er sich sehr verändert. Früher waren die zwölf Männer eng verbunden gewesen, Brüder im gemeinsamen Ziel, vereint durch ihre Geschichte.
Doch jetzt gab es nur mehr vier von ihrer Art. So schnell war es dazu gekommen. Mitchell fragte sich, in welchem Ausmaß der General die Schuld daran trug.
Mit seiner Begegnung mit Eleanore Granger hatte das alles begonnen. Sie besaß die Heilkraft, nach der sich die Adarianer verzweifelt sehnten. Zudem war sie bildschön, und Mitchell verstand, dass Kevin sich in sie verliebt hatte. Über zehn Jahre hatte die Jagd nach ihr gedauert, nach adarianischen Maßstäben nur ein Sandkorn im Stundenglas der Zeit und der Mühe wert.
Aber die vier Erzengel hatten den Adarianern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach der ersten Schlacht vor einigen Monaten war alles anders geworden.
Stets ein guter Anführer, hatte Kevin Trenton immer nur Pläne zum Nutzen der Adarianer geschmiedet. Er war ein charismatischer Mann, dem Mitchell und die anderen blindlings gehorcht hatten, in der Gewissheit, er würde nur das Beste für sie alle anstreben. Deshalb hatte Mitchell sich auch bereitwillig in einen Vampir verwandelt, denn so würde er die Heilkunst eines Sternenengels nicht mehr brauchen, weil er sie selbst besaß. Außerdem konnte er jetzt das Schattenreich durchqueren, fliegen und die Gedanken aller Leute lesen. Die Vorzüge schienen den Nachteil zu überwiegen. Nie mehr würde er die Sonne sehen. Nun, die hatte ihm ohnehin nicht viel bedeutet.
Aber jetzt waren eben lediglich noch vier Adarianer von den ursprünglich zwölf übrig. Vier Vampire. Stärker als zuvor, aber nur mehr Schatten der Engel, die sie früher gewesen waren, im Dunkel gefangen, so weit von ihrem Schöpfer entfernt, dass Mitchell sich beunruhigt fragte, ob er sie wirklich erschaffen hatte. Die Seele von beklemmender Kälte gequält, dachte er: Wir sind zu weit gegangen.
Während der General über das unnatürliche schwarze Löwenzahnfeld schlenderte, sah Mitchell die einst so klugen blauen Augen seines Anführers rötlich leuchten. Und da wusste er Bescheid. Abraxos existierte nicht mehr, und der Wahnsinn, der Kevin anscheinend ergriffen hatte, bedrohte sie alle.
So weit hätte Mitchell es nicht kommen lassen dürfen. Sieben Adarianer tot, einer – Daniel – vermisst. Wie viele würden noch verloren gehen, bis sie ihre Lektion lernten?
Welch ein Narr war ich … Das Universum hatte ihn angeschrien, auf den großen Plan hingewiesen. Und er war taub gegen die Warnung gewesen. Die verstümmelten Leichen Adams und der anderen konnte Mitchell den Erzengeln nicht anlasten. Der schwarze Löwenzahn war ein Zeichen, irgendetwas stimmte hier nicht, die ganze Insel roch nach einer bösen Macht. Mochten die vier Lieblinge des Alten Mannes auch allen Adarianern ein Dorn im Auge sein – sie waren nicht böse.
Hier ging irgendetwas vor. Und Mitchells Instinkte drängten ihn zur Flucht, bevor es zu spät sein würde.
»Das waren sie nicht«, sagte er leise und starrte die einsame Gestalt des Anführers an.
Nach einem längeren Schweigen trat Luke an Mitchells Seite und spähte über seine Schulter zum Ausgang, durch den sie hereingekommen waren. »Nein«, stimmte er zu.
Ely seufzte müde. Erwartungsvoll sahen Mitchell und Luke zu dem großen Schwarzen, der Kevin mit glühenden Augen musterte. Seine Miene verriet tiefe Trauer und eiserne Entschlossenheit. Aber er sagte nichts. Vor Elys Verwandlung in einen Vampir hatte Mitchell seine Gedanken lesen können, jetzt musste er sich mit den Gehirnen der Sterblichen begnügen. Die Gehirnwindungen von Vampiren waren zu kompliziert.
Da spürte Mitchell eine Veränderung in der Luft. Er schaute zu Kevin hinüber, der auf der schwarzen Wiese innehielt und seinen Männern den Rücken kehrte. Reglos stand er da, eine unbekannte Macht schien ihn zu erfüllen. Als würde er auf etwas warten. Oder auf etwas horchen.
Die Stirn gerunzelt, stieg Mitchell von der
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