Azulamar: Der Erbe von Atlantis (German Edition)
nie wieder loslassen.
Ich rannte ihnen hinterher, die Blätter raschelten nicht unter meinen Füßen. Sie erreichten die Tür, mein Vater öffnete sie, und da lag sie, meine Mutter.
Ich glaubte damals, sie schliefe nur. Auf ihren vollen, leicht geöffneten Lippen glitzerte eine Spur von dunklem Blut, ihr Gesicht war bleich wie Schnee. Mein jüngeres Ich sprang von den Schultern meines Vaters, der noch versuchte, den kleinen River aufzuhalten, doch es war zu spät. Ich kniete bereits neben meiner Mutter, deren Hals rot und blau war. Ihre Finger waren blutig gekratzt, die Handgelenke geschwollen.
Mein Vater trat an ihre andere Seite.
»Sie ist tot, River«, sagte er sanft, während ihm die Tränen über die Wangen rannen und die Kiemen mit salzigem Wasser benetzten.
Er fasste unter ihren Nacken, löste die Kette um ihren Hals, schob sie sich in die Tasche, betrachtete meine Mutter noch für einige Augenblicke, dann legte er mir die Hand über die Augen, verharrte kurz und trug mich aus unserer Wohnung.
Ich wusste, der Mann, der früher mein Onkel gewesen war, hatte sie ermordet. Ich sah die Szene so deutlich vor mir, und das mit fünf Jahren, wie er ihr die Hände um den Hals gelegt und zugedrückt hatte. Fester und fester. So, als wäre ich selbst dabei gewesen.
Aber irgendetwas stimmte nicht.
Ich lief meinem Vater und dem kleinen River hinterher, bis sie an ihr Auto kamen. Mein Vater ließ mein jüngeres Ich herunter, anstatt es ins Auto zu setzen.
Der kleine Junge, dessen Augen schwarz geworden waren, aber bis zudiesem Augenblick noch keine Tränen hervorgebracht hatten, drehte sich zu mir herum.
»Daddy hat mir ein Puzzle gekauft«, sagte er. »Und ich werde es Stück für Stück zusammensetzen. Wie weit bist du mit deinem Puzzle?«
»Was meinst du?«, flüsterte ich, in die Hocke gehend, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Du arbeitest an einem Mosaik, River. Du hast doch alle Teile, warum setzt du sie nicht zusammen? Deine Vergangenheit ist ein Stück, genauso wie die von Ashlyn. Aber was viel wichtiger ist, ist die Gegenwart. Setz es doch zusammen, River. Bitte! Die Geschichte ist nicht ganz so einfach, wie du denkst.«
»Ich verstehe das alles nicht! Haben die letzten Ereignisse etwas damit zu tun?«
»Such in deinen eigenen Reihen nach Schuld, und du wirst Schuld finden.«
Erneut legte sich ein Nebelschleier über uns und trennte mich von dem kleinen Jungen, der vor mir stand.
Ich zuckte zusammen.
Sie dachte an mich. Jetzt, in diesem Moment. Und er tat ihr weh. Großer Gott, Alastair verletzte sie.
Ich muss mich beruhigen. Er wird sie nicht töten. Was hätte er davon, ein unschuldiges Mädchen zu ermorden? Ashlyn, ich werde dich da rausholen. Nicht mehr lange, und du bist in Sicherheit.
»River! River, sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Eine aufgeregte Stimme drang an mein Ohr. Rasch wandte ich mich zur Seite und blickte in die ozeanblauen Augen meiner Cousine Paradise.
»Um ehrlich zu sein – nein, tue ich nicht«, antwortete ich schroff. Wir hatten in einer Strandhütte Schutz gesucht. Der salzige Geruch des Meeres hing in der Luft, in den Fischernetzen, die an den Wänden hingen, und ein grünlicher Belag war an den Rudern eines Bootes zu sehen, die übereinandergestapelt waren.
Ich hatte die Tür geöffnet und sah nun wieder auf das Wasser hinaus. Es war friedlich und ruhig. Nichts ließ vermuten, dass einen Tag zuvor ein Krieg auf dem Meeresgrund getobt hatte. Nichts erinnerte mehr an den Augenblick, in dem Ashlyns und meine Hand voneinander getrennt worden waren. Welle um Welle rollte über den Strand, grub sich weiß schäumend in den Sand und verschwand dann wieder ganz plötzlich.
Ein unregelmäßiger, aber doch kontinuierlicher Rhythmus.
»Das solltest du aber«, sagte Paradise bestimmt, die Arme vor dem Körper verschränkend.
»Warum? Was solltest du mir noch sagen? Wir beide haben Azulamar fallen sehen, wir beide wissen, was zu tun ist.«
»Ach, tatsächlich? Was ist denn zu tun?«, hakte Paradise nach.
Ich entrang mir ein Seufzen, während sich mein Gesicht wieder verdunkelte.
»Ich werde Ashlyn zurückholen. Koste es, was es wolle. Und wenn ich dafür mein Leben geben muss und Azulamar noch dazu – es ist mir egal. Alastair kann alles haben, solange er sie nur gehen lässt.«
»Bist du wahnsinnig?«, rief Paradise und drehte mich zu sich herum. »Sag so etwas nicht! Sie ist doch nur ein einzelner Mensch! Wie kannst du das Schicksal von Azulamar, das Schicksal
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