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brachten und für einen Menschen mit einem derartigen kulturellen Hintergrund nicht mehr verständlich waren. Sie fielen um wie die Fliegen; ich glaube nicht, dass viele der Hunderte von Betriebswirtschaftlern meiner Generation, die in den achtziger Jahren den Weg an die Börse fanden, immer noch diese Form der beruflichen, disziplinierten Risikoübernahme praktizieren.
Rettung durch Aeroflot
In den neunziger Jahren kamen Menschen mit vielfältigerem und interessanterem Hintergrund hinzu, durch die der Trading Room zu einem sehr viel unterhaltsameren Ort wurde. Sie retteten mich vor Unterhaltungen mit den Betriebswirtschaftlern. Viele Naturwissenschaftler, die teilweise sehr erfolgreich auf ihrem Gebiet waren, schlugen eine Laufbahn an der Börse ein, um »Kohle zu machen«. Sie heuerten ihrerseits Menschen an, die ihnen ähnelten. Zwar hatten nur wenige von ihnen promoviert (Absolventen mit Doktorgrad sind faktisch immer noch eine Minderheit), doch veränderten sich schlagartig die Kultur und die Wertvorstellungen, so dass intellektuellem Tiefgang mehr Toleranz entgegengebracht wurde. Die bereits hohe Nachfrage nach Wissenschaftlern an der Wall Street wurde durch die rasche Weiterentwicklung der Finanzinstrumente noch weiter angeheizt. Als Fachgebiet dominierte die Physik, aber man konnte Akademiker mit allen erdenklichen quantitativen Ausbildungen finden. Russische, französische, chinesische und indische Akzente (in dieser Reihenfolge) begannen sowohl in New York als auch in London die Szene zu beherrschen. Man erzählte sich, dass in jedem aus Moskau eintreffenden Flugzeug zumindest in der letzten Reihe lauter russische, mathematisch orientierte Physiker saßen, die sich auf dem Weg zur Wall Street befanden (sie waren nicht ausgekocht genug, um bessere Sitzplätze zu ergattern). Man konnte sehr billige Arbeitskräfte finden, wenn man mit einem (unerlässlichen) Dolmetscher zum New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen fuhr und willkürlich Vorstellungsgespräche mit den Neuankömmlingen führte, die dem Stereotyp entsprachen. Ende der neunziger Jahre konnte man sogar Hochschulabsolventen, die von einem Wissenschaftler von Weltrang ausgebildet worden waren, für fast die Hälfte des Gehalts eines Betriebswirtschaftlers oder MBAs einstellen. Wie heißt es doch so schön: Marketing ist alles, und diese Menschen verstanden sich nicht auf die Kunst, sich selbst zu verkaufen.
Ich hatte ein großes Faible für russische Wissenschaftler; viele von ihnen lassen sich aktiv als Schachtrainer nutzen (auch einen Klavierlehrer fand ich auf diese Weise). Darüber hinaus sind sie bei Vorstellungsgesprächen ungemein hilfreich. Wenn sich Betriebswirtschaftler um Stellen im Wertpapierhandel bewerben, brüsten sie sich häufig in ihren Lebensläufen mit »Fortgeschrittenenkenntnissen« im Schach. Ich erinnere mich an den MBA-Berufsberater in Wharton, der uns wärmstens ans Herz legte, unsere Schachkenntnisse herauszustellen, »weil sich das intelligent und strategisch anhört«. MBAs legen in der Regel ihre oberflächliche Kenntnis der Spielregeln als »Expertise« aus. Wir pflegten den Wahrheitsgehalt ihrer Behauptung, zu den guten Schachspielern zu gehören, (sowie den Charakter der Bewerber) auf die Probe zu stellen, indem wir ein Schachspiel aus der Schublade zogen und dem plötzlich blass werdenden Studenten erklärten: »Juri wird sich mit Ihnen unterhalten.«
Die Versagensquote dieser Wissenschaftler war ein wenig – aber nicht viel – besser als die der Betriebswirtschaftler, ließ sich jedoch auf einen anderen Grund zurückführen: Ihnen fehlte im Durchschnitt (aber nur im Durchschnitt) jegliche praktische Intelligenz. Einige erfolgreiche Wissenschaftler hatten nicht das geringste Urteilsvermögen (und keinerlei Umgangsformen) – doch das galt beileibe nicht für alle. Viele konnten die kompliziertesten Gleichungen mit einem Höchstmaß an Präzision berechnen, waren aber völlig außerstande, ein Problem zu lösen, das den geringsten Bezug zur Realität hatte. Man hatte den Eindruck, sie würden die Theorie, nicht aber den Geist der Mathematik verstehen (wir werden in Kapitel 11 beim Problem der doppelten Logiksysteme mehr über derartiges duales Denken erfahren). Ich bin davon überzeugt, dass X, ein sympathischer Russe aus meinem Bekanntenkreis, zwei verschiedene Gehirne besitzt: eines für die Mathematik und ein zweites, deutlich minderwertigeres, für alles andere (wozu auch die Lösung finanzmathematischer
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