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Probleme gehört). Gelegentlich erschien jedoch ein wissenschaftlich gebildeter Schnelldenker auf der Bildfläche, der noch dazu pfiffig war. Ganz gleich, welchen Nutzen diese Völkerwanderung brachte, sie verbesserte auf jeden Fall unsere Schachkenntnisse und führte zu anspruchsvollen Gesprächen während der Mittagspause (wodurch aus den üblichen 60 Minuten deutlich mehr wurden). Stellen Sie sich vor, dass ich mich in den achtziger Jahren mit Kollegen unterhalten musste, die Betriebswirtschaft oder Steuerrecht studiert hatten und zu der heroischen Heldentat fähig waren, über die Richtlinien des Financial Accounting Standards Board (die so genannten »FASB-Standards«) zu diskutieren! Ich muss gestehen, dass ihre Interessen nicht sonderlich ansteckend waren. Interessant an den Physikern ist nicht ihre Fähigkeit, Flüssigkeitsdynamik zu erörtern, sondern dass sie sich von Natur aus für eine breite Palette intellektueller Themen interessieren und anregende Gesprächspartner sind.
Solon besucht Regine’s
Wie der Leser vielleicht bereits vermutet, habe ich mich mit meinen Ansichten zum Zufall während meiner Karriere an der Wall Street bei einigen meiner Kollegen nicht gerade beliebt gemacht (von denen viele indirekt – aber nur indirekt – in diesen Kapiteln porträtiert werden). Am stürmischsten waren jedoch die Beziehungen zu einigen Menschen, die das Pech hatten, meine Vorgesetzten zu sein. Denn ich hatte zwei Chefs in meinem Leben, die sich in nahezu allen Charakterzügen voneinander unterschieden.
Der erste, denn ich hier Kenny nennen werde, war die typische Verkörperung eines Familienmenschen aus der Vorstadt. Er war die Art Mensch, die sich am Samstagmorgen als Fußballtrainer profilieren und am Sonntagnachmittag ihren Schwager zum Grillen einladen. Er erweckte den Eindruck, dass man ihm seine Ersparnisse anvertrauen konnte, und stieg tatsächlich trotz seiner mangelnden fachlichen Kompetenz in Finanzderivaten (dem Spezialgebiet seiner Firma) recht schnell in der Organisation auf. Aber er war ein zu sachlicher Mensch, um meine Logik zu verstehen. Einmal warf er mir vor, dass ich mich nicht von den Erfolgen einiger seiner Händler in der Hausse der europäischen Anleihen im Jahr 1993 beeindrucken ließ; ich hielt diese Trader nämlich nur für zufällig treffende Revolverhelden. Ich versuchte vergebens, ihm das Konzept des »Survivor Bias« (mit dem sich Teil II dieses Buches beschäftigen wird) zu erklären. Seine Händler (und auch er selbst) haben inzwischen alle das Wertpapiergeschäft verlassen und »gehen anderen Interessen nach«. Aber er vermittelte den Eindruck, dass er ein ruhiger, besonnener Mensch sei, der seine Meinung offen sagte und sich darauf verstand, anderen in einem Gespräch ihre Befangenheit zu nehmen. Er war redegewandt und dank seines sportlichen Aussehens äußerst vorzeigbar, wählte wohlüberlegte Worte und besaß die extrem seltene Eigenschaft, gut zuhören zu können. Dank seines persönlichen Charmes gewann er das Vertrauen des Vorstandsvorsitzenden – aber mir gelang es nie, meinen mangelnden Respekt zu verbergen, insbesondere da er nicht den geringsten Schimmer hatte, wovon ich sprach. Trotz seines konservativen Aussehens war er eine richtige Zeitbombe, die nur darauf wartete hochzugehen.
Der zweite Chef, den ich hier Jean-Patrice nennen werde, war dagegen ein übellauniger, aufbrausender Franzose, der sich durch eine äußerst aggressive Persönlichkeit auszeichnete. Er verstand es meisterhaft, seinen Untergebenen Unbehagen einzuflößen und sie ständig in Angst und Schrecken zu versetzen – mit Ausnahme der Mitarbeiter, die er wirklich mochte (das waren nicht viele). Zu meiner Ausbildung als Risikoträger leistete er einen wichtigen Beitrag; er war einer der äußerst seltenen Menschen, die den Mut hatten, sich allein auf den Generator zu konzentrieren und die Ergebnisse völlig außer Acht zu lassen. Er repräsentierte die Weisheit Solons. Obwohl man aber eigentlich erwarten würde, dass ein Mensch mit so viel persönlicher Weisheit und einem so guten Verständnis des Zufalls ein langweiliges Leben führen würde, war seines geradezu schillernd. Im Gegensatz zu Kenny, der konservative dunkle Anzüge und weiße Hemden bevorzugte (sein einziges Laster waren etwas protzige Hermès-Krawatten mit Reitermotiv), kleidete sich Jean-Patrice wie ein Pfau: blaue Hemden, karierte Sportjacketts mit knallbunten Seideneinstecktüchern. Fürs Familienleben interessierte
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