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Börsenhändler liegt meiner Ansicht nach in der Tatsache, dass für ihn Wissen und Erkundung weniger mit dem zu tun haben, was wir wissen, sondern mit dem, was wir nicht wissen. Sein berühmtes Zitat:
Sie sind Männer mit kühnen Ideen, die ihren eigenen Ideen dennoch äußerst kritisch gegenüberstehen; sie versuchen herauszufinden, ob ihre Ideen richtig sind, indem sie zuerst überprüfen, ob sie nicht vielleicht falsch sind. Sie arbeiten mit kühnen Mutmaßungen und versuchen rigoros, ihre eigenen Hypothesen zu widerlegen.
»Sie« sind Wissenschaftler, könnten aber auch jedem anderen Beruf angehören.
Indem Popper die Meister relativierte, rebellierte er gegen das Ausufern der Wissenschaft. Auf intellektueller Ebene war Popper geprägt von den dramatischen Verlagerungen in der Philosophie, als Versuche unternommen wurden, anstelle eines verbalen, rhetorischen Ansatzes ein streng wissenschaftliches System einzuführen, wie wir es in der Vorstellung des Wiener Kreises in Kapitel 4 gesehen haben. Die Anhänger dieser Bewegung wurden bisweilen als Logische Positivisten bezeichnet, nach der Positivismus- Bewegung, in der Auguste Comte im 19. Jahrhundert in Frankreich eine Vorreiterrolle gespielt hatte. Positivismus war hier als Verwissenschaftlichung aller Dinge definiert (buchstäblich alles, was es unter der Sonne gab). Er übertrug quasi die Industrielle Revolution auf die »Soft Sciences«. Ich möchte hier nicht näher auf den Positivismus eingehen, muss jedoch anmerken, dass Popper ein Gegenmittel dazu bietet. Er hält eine Verifizierung für unmöglich. Im Extremfall erscheinen Poppers Thesen naiv und primitiv – aber sie funktionieren. Man beachte, dass ihn seine Kritiker als naiven Falsifikationisten bezeichnen.
Ich bin ein naiver Falsifikationist par excellence. Der Grund: So kann ich überleben. Meinen extremen, obsessiven Popperismus setzte ich folgendermaßen um: Bei allem, was ich tue, spekuliere ich auf Theorien, die eine bestimmte Weltanschauung widerspiegeln, aber mit der Auflage, dass mir kein seltenes Ereignis Schaden zufügen darf. Faktisch möchte ich, dass alle denkbaren seltenen Ereignisse mich unterstützen. Meine Vorstellung von der Wissenschaft weicht von der anderer in meinem Umfeld ab, die sich selbst so gerne als Wissenschaftler bezeichnen. Wissenschaft ist für mich reine Spekulation – eine reine Formulierung von Hypothesen.
Eine offene Gesellschaft
Poppers Falsifizierungsansatz steht in enger Verbindung mit der Vorstellung einer offenen Gesellschaft. In einer offenen Gesellschaft gibt es keine dauerhaften Wahrheiten; sie würden immer das Entstehen von Gegenhypothesen zulassen. Karl Popper stimmte hier mit seinem Freund, dem zurückhaltenden Ökonomen von Hayek, überein. Dieser befürwortete den Kapitalismus als einen Staat, in dem Preise Informationen verbreiten, die im bürokratischen Sozialismus unterdrückt würden. Auch wenn man es nicht meinen möchte, stehen beide Konzepte – Poppers Falsifizierungsansatz und die offene Gesellschaft – in engem Zusammenhang mit einer rigorosen Methode zum Umgang mit dem Zufall in meinem Brotberuf als Börsenhändler. Ein offener Geist ist selbstverständlich notwendig, wenn man es mit dem Zufall zu tun hat. Popper war überzeugt, dass jede Vorstellung einer Utopie von vornherein geschlossen war, weil sie ihre eigene Widerlegung nicht zuließ. Die einfache Vorstellung eines guten Gesellschaftsmodells, die nicht falsifiziert werden darf, ist der Totalitarismus. Von Popper lernte ich neben dem Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaftssystemen auch, was einen offenen von einem geschlossenen Verstand unterscheidet.
»Nobody is perfect«
Ich muss nun einige ernüchternde Informationen über Popper als Menschen mitteilen. Zeitzeugen seines Privatlebens stellten fest, dass er sein Gedankengut recht wenig praktizierte. Der Philosoph und Oxford-Dozent Brian Magee, der fast dreißig Jahre lang mit Popper befreundet war, beschrieb ihn als weltfremd (außer in seiner Jugend) und eng auf seine Arbeit fokussiert. Während der letzten 50 Jahre seiner langen Karriere (Popper wurde 92 Jahre alt) lebte er fern von der Außenwelt, isoliert von extremen Ablenkungen und Anregungen. Popper »neigte außerdem dazu, anderen gute Ratschläge zu ihrer Karriere oder ihrem Privatleben zu erteilen, obwohl er von beidem wenig Ahnung hatte. Das alles widersprach natürlich vollkommen seinen erklärten (und wirklich ehrlich gemeinten)
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