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einer Goldgrube werden kann, bloß weil der Zufall ein wenig nachhilft.
Der Sandhaufen-Effekt
Lassen Sie uns als Erstes »Nichtlinearität« definieren. Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Konzept darzustellen, aber zu den beliebtesten in der Wissenschaft gehört der so genannte »Sandhaufen-Effekt«, den ich folgendermaßen veranschaulichen kann: Ich sitze gerade am Strand an der Copacabana in Rio de Janeiro und versuche, nichts Anstrengendes zu tun, bin weit weg von allem, was ich lesen oder schreiben kann (was mir natürlich nicht gelingt, denn ich schreibe ja im Geiste diese Zeilen). Ich spiele mit Plastiksandspielzeug, das ich mir von einem Kind ausgeborgt habe und versuche, damit ein Gebäude zu errichten – ein bescheidener, aber hartnäckiger Versuch, den Turm von Babel nachzubilden. Immer wieder füge ich oben Sand hinzu und mache so das gesamte Bauwerk langsam höher und höher. Meine babylonischen Verwandten bildeten sich ein, sie könnten auf diese Weise den Himmel erreichen. Ich habe bescheidenere Pläne – ich will testen, wie hoch ich bauen kann, bevor das ganze Gebilde in sich zusammenstürzt. Ich füge noch mehr Sand hinzu, überlege mir, wie das Gebäude letzten Endes zusammenbrechen wird. Ein Kind, das nicht gewohnt ist, Erwachsene Sandburgen bauen zu sehen, beobachtet mich fasziniert.
Irgendwann stürzt meine Burg – zum großen Vergnügen des mir zusehenden Kindes – unweigerlich in sich zusammen und wird wieder eins mit dem übrigen Sand am Strand. Man könnte sagen, dass das letzte Sandkorn für die Zerstörung des gesamten Gebäudes verantwortlich ist. Hier werden wir Zeuge eines nichtlinearen Effekts, der daraus resultiert, dass eine lineare Kraft auf einen Gegenstand wirkt. Ein sehr kleiner zusätzlicher Input, in diesem Fall ein Sandkorn, löst ein unverhältnismäßig starkes Ereignis aus, nämlich den Einsturz meines angehenden Turms von Babel. Redewendungen wie »der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte« belegen, dass der Volksmund viele solcher Phänomene kennt.
Für diese nichtlineare Dynamik gibt es auch einen Namen, der sie als eigenes Sachgebiet kennzeichnet: Chaostheorie. Diese Bezeichnung ist irreführend, denn mit Chaos hat sie nichts zu tun. Die Chaostheorie beschäftigt sich primär mit Funktionen, bei denen ein sehr geringer Input zu einer unverhältnismäßigen Reaktion führen kann. So könnten etwa Bevölkerungsmodelle in Abhängigkeit von winzigen Unterschieden in den betreffenden Populationen zum Ausgangszeitpunkt zu einem Pfad explosiven Wachstums oder zum Aussterben einer Spezies führen. Eine weitere beliebte wissenschaftliche Analogie ist das Wetter, wo gezeigt wurde, wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels in Indien einen Wirbelsturm in New York auslösen kann. Aber auch die Antike kann hier ihr Scherflein beitragen: Pascal (der Pascal, dessen Wette wir in Kapitel 7 erörterten) behauptete, der Lauf der Welt wäre völlig anders gewesen, wenn Kleopatras Nase nur ein klein wenig kürzer ausgefallen wäre. Kleopatra sei eine attraktive Frau gewesen, deren Gesicht von einer schmalen, außergewöhnlich langen Nase dominiert wurde, wegen der sich sowohl Julius Cäsar als auch sein Nachfolger Marcus Antonius in sie verliebten (an dieser Stelle kann der intellektuelle Snob in mir nicht der Versuchung widerstehen, eine andere Meinung zu vertreten als die der Allgemeinheit; Plutarch behauptete, diese ärgerliche Vernarrtheit der Macher ihrer Ära sei Kleopatras Redegewandtheit zu verdanken, nicht ihrem guten Aussehen, und ich glaube, dass er damit wirklich Recht hat).
Bühne frei für den Zufall
Interessanter kann die Sache werden, wenn der Zufall die Bühne betritt. Stellen Sie sich einen Raum voller Schauspieler vor, die alle auf ein Vorsprechen warten. Natürlich werden nur ganz wenige von ihnen eine Rolle bekommen, und sie sind diejenigen, die in den Augen der Öffentlichkeit gemeinhin als Vertreter ihrer Zunft gesehen werden, wie wir dies in den Ausführungen zum Survivor Bias gesehen haben. Die Gewinner ziehen dann nach Bel Air, fühlen sich bemüßigt, eine Grundausbildung im Konsum von Luxusgütern zu absolvieren, und zeigen Anzeichen von Drogenmissbrauch – vielleicht wegen ihrer ausschweifenden und unregelmäßigen Lebensweise. Auch das Schicksal der anderen Schauspieler (der großen Mehrheit) können wir uns vorstellen: Sie werden ihr Leben lang in der Starbucks-Filiale ihrer Gegend Milch für Caffe Latte aufschäumen und zwischen
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