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nickt. Sie denkt an Roman, an Venedig, das schöne Kleid, die Peeptoes, die Fahrt auf dem Vaporetto, als sie den salzigen Wind roch und seinen Arm auf ihren Schultern spürte.
»Warum bist du gekommen?«
»Schuldgefühle? Außerdem bin ich ziemlich erschrocken, als ich Victorias Gekreische am Telefon hörte.« Er schenkt Kaffee nach. »Das ist ja ihr Trick. Schuldgefühle machen.«
»Igor, was meinte Mutter damit: dass Grace wohl doch die Wahrheit gesagt hätte?«
»Meine Geschäftsauffassung war immer, möglichst wenig zu wissen.«
»Und jetzt? Hast du deine Geschäftsauffassung modifiziert?«
Igor trinkt seine Tasse aus. »Eigentlich ist das das Letzte, was ich will.«
»Wenn wir alle nach dieser Einstellung handeln«, fängt Sam an, doch ihr Bruder unterbricht sie.
»Wenn wir alle so gehandelt hätten, schon immer, du, Nikolaj und ich, hätte es für unsere Eltern Sinn gemacht, sich miteinander zu beschäftigen. Stattdessen hatten sie immer Ablenkung. Ihre leeren Wochenenden wurden von den Kindern mit Leben erfüllt.«
»Na toll!« Sam platzt der Kragen. »Es ist also Nikolajs und meine Schuld, ja? Weil wir kooperativ waren …«
»Touch down!« Igor legt eine Hand auf Sams Hand. »Das ist letztlich genau der beknackte Automatismus. Warum kapiert das nur keiner?«
»Bitte?«
»Es geht immer um Schuld, um Schuld!« Zornig schlägt Igor mit der freien Hand auf den Tisch, dass die Teller und Tassen scheppern. »Warum wechselst du das dämliche Wort zur Abwechslung nicht aus und redest von Verantwortung? Hat unsere Mutter nicht die Verantwortung für ihr eigenes Leben? Sie hat schließlich ihre Kunst und sie kann ihre Tage sinnvoll füllen, während Dad im Geschäft ist. Sie kann sich Freunde zulegen, echte Freunde, nicht irgendwelche Coburger Großkopferten, von denen sie sich irgendeine Publicity erhofft. Und ein Ehepaar findet bestimmt an den Wochenenden auch sonst was Sinnvolles zu tun. Das nennt man Freizeit!«
Sam schüttelt Igors Hand ab. Er hat recht. Sie spürt es. Der Gedanke erleichtert sie sogar. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie an der gegenseitigen Abhängigkeit mitgebaut hat, in der sie jetzt gefangen ist wie ein Moskito im Spinnennetz.
»Du hast es dir leicht gemacht. Wegziehen, nicht mehr herkommen …«
»Ich wäre sonst untergegangen! Und das weißt du! Ich musste weg. Mein Ding machen. Ohne Kontrolle. Ohne Unkenrufe.«
Sam sieht sein Gesicht an. Er ist müde, hat wahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen. Es ist schön, mit ihm hier zu sitzen. Sie kennt Igor so wenig. Hatte nie die Zeit zu entdecken, was sie verbindet.
»Aber ab und zu warst du bei Blanca.«
»Und auch bei Victoria. Stippvisiten. Selten.«
»Und jetzt? Was machen wir jetzt?«
»Wir ziehen an einem Strang.«
»In Ordnung. Wenn du mir sagst, an welchem …«
»Bis zur Ausstellung lebt jeder sein Leben. Es sind nur noch anderthalb Wochen. Wir sehen uns auf der Vernissage. Unsere Eltern müssen das selbst klar kriegen. Dads Affäre hat mit uns nichts zu tun!«
»Klingt absolut nachvollziehbar.« Eine Welle der Erleichterung flutet durch Sam. »Ich habe seinen Anruf gestern Nacht weggedrückt.«
»Glückwunsch!« Igor zieht seine Brieftasche hervor. »Ich lade dich ein.«
Sie verlassen das Café. Sam will ins Atelier, so schnell wie möglich. Igor fährt nach München.
»Machs gut, Schwesterchen«, verabschiedet er sich. Ein flüchtiger Kuss landet auf ihrer Wange. Sam will die Hand ausstrecken und über die raren Stoppeln auf seiner Glatze streicheln, da ist er schon unterwegs, weit ausschreitend, was bei seinem Körperbau ein bisschen gorillamäßig aussieht.
»Tschüss, Igor«, murmelt Sam.
58
Die anderthalb Wochen bis zur Ausstellungseröffnung sind stressiger, als Sam es sich vorgestellt hat. Natürlich kann sie sich nicht aus allem rausnehmen. Die Dinge sind keine Selbstläufer. Einer muss immer geradestehen. Igor ist in München, Nikolaj schuftet in der Praxis. Luna sieht kein Problem darin, wenn Sam sich am späten Nachmittag abseilt, um zu erledigen, was sonst keiner tut.
Die Spedition holt Victorias Bilder ab. Weil ihre Mutter im Hotel wohnt und ihr Vater in der Firma ist, radelt Sam zum Glockenberg und zeigt den Arbeitern, was zu transportieren ist. Sie passt auf, dass die Bilder ordentlich eingepackt werden. Diese Aktion kostet sie einen halben Tag.
Am Tag danach ruft Frau Hartmann vom Eventmanagement an und meldet, dass weniger Quadratmeter zur Verfügung stehen, als
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