Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
war strahlend blau, und die ersten Bierleichen hingen bereits über den Tischen und schnarchten friedlich vor sich hin, während die anderen Gäste des Stadtfests noch der feucht-fröhlichen Feier frönten.
Ein Schild über dem Eingang des Zelts verkündete: Madame LaRouge . In der Erde steckte eine kleine Kreidetafel, auf der die Preise für eine Sitzung aufgelistet waren.
»Du weißt doch, dass das Blödsinn ist«, versuchte Babel ihre Schwester zu überzeugen. »Sie ist nicht mal eine echte Hexe, das spürst du doch.«
Schmollend verzog Judith den Mund. Sie war gerade in ihrer grünen Phase, das hieß, der Lidschatten, den sie aus der Drogerie hatte mitgehen lassen, zog sich bis zu ihren hellen Augenbrauen hoch. Auch ihre Finger- und Fußnägel waren in dieser Farbe lackiert, und eine einzelne Schimmelsträhne unterbrach ihr ansonsten hellblondes Haar. Im Monat zuvor war es Rot gewesen, allerdings hatte ihre Mutter dem schnell ein Ende bereitet, weil Judith immer wieder auf der Straße von besorgten Passanten angesprochen worden war, die glaubten, sie würde im Gesicht bluten.
Der Ausflug zum Stadtfest war Judiths Idee gewesen, Babel wäre lieber ins Kino gegangen. Aber nachdem sie sich einen Tag zuvor mit ihr gestritten hatte, bestand ihre Mutter darauf, dass sie etwas gemeinsam unternahmen.
Sie hätte gleich wissen müssen, dass es unmöglich war, Judith zu etwas zu zwingen, zu dem sie keine Lust hatte. Also war sie ihr hinterhergetrottet, lustlos die Hände in den Jeans, und nun standen sie vor dem Zelt einer angeblichen Wahrsagerin.
»Willst du denn gar nicht wissen, was die Zukunft für dich bereithält?«, fragte Judith und grinste.
»Ehrlich gesagt, nein. Aber das ist ja noch nicht mal echt, das ist doch nur Verarsche für Leichtgläubige. Dafür gebe ich sicher keine Geld aus.«
Judith verdrehte die Augen. »Wer sagt, dass du Geld dafür ausgeben musst? Himmel, wozu bist du nun eine echte Hexe?«
Babel runzelte die Stirn. Ihre Mutter schärfte ihnen immer ein, dass sie mit ihren Fähigkeiten vorsichtig umgehen mussten, denn sie durften nicht zu offensichtlich werden.
Bevor Babel eine weitere Erwiderung hervorbringen konnte, hob sich die Eingangsplane des Zelts, und eine Frau mittleren Alters trat ihnen entgegen. Sie trug ein tiefblaues Kleid mit Silberstickereien am Kragen und den überbreiten Ärmeln. Ihr dunkles Haar war zu einem beängstigend hohen Knoten aufgetürmt. An den Ohren hingen Kreolen, die ihre Schultern berührten. Der rot geschminkte Mund war zu einem einladenden Lächeln verzogen, als die Frau auf sie herabsah.
»Kann ich euch helfen?«, fragte sie freundlich, und sofort rief Judith enthusiastisch: »Ja, wir wollen uns die Zukunft voraussagen lassen.«
»Dann kommt mal herein.« Sie hielt die Plane so, dass Babel und Judith eintreten konnten. Babel musste ein wenig den Kopf einziehen und sich bücken.
Als sie das Innere des Zelts betraten, schlug ihnen Weihrauchduft entgegen, und Babel verzog angewidert das Gesicht. Viel Platz war hier nicht. Es gab lediglich einen kleinen Tisch, um den ein halbes Dutzend große Kissen lagen, ähnlich bestickt wie das Kleid der Wahrsagerin. Ein kleiner CD -Player sorgte für stimmungsvolle Musik, und mehrere Kerzenständer verbreiteten schummriges Licht. Babel fragte sich, wie die Frau in diesem Halbdunkel überhaupt etwas in ihren Karten erkennen konnte.
Madame LaRouge deutete auf die Kissen und setzte sich im Schneidersitz ihnen gegenüber an den Tisch. Aus einem schwarzen Samtbeutel nahm sie einen Stapel Tarotkarten und begann langsam, sie zu mischen.
»So, was wollt ihr denn wissen?«
»Werde ich bald einen tollen Freund finden?«, fragte Judith enthusiastisch, während Babel gelangweilt die Ellbogen auf dem Tisch abstützte.
Dafür brauchte man wirklich keine Wahrsagerin befragen. Seit Judith zwölf geworden war, hatte sie keine Woche keinen Jungen angeschleppt. Inzwischen war ihr Vater dazu übergegangen, sie alle nur Johnny zu nennen, gleichgültig, ob sie in Wirklichkeit vielleicht Norbert, Gert oder Michael hießen. Außerdem legte er ihnen bei jedem ersten Zusammentreffen den Arm in einer Art um die Schultern, die auch dem Dümmsten unter ihnen klarmachte, was er mit Judith besser nicht anstellte. Ganz ohne Magie schaffte es ihr Vater, dass die Jungs Judith immer pünktlich nach Hause brachten.
Madame LaRouge legte die Karten in ordentlichen Reihen vor sich und verzog konzentriert die Augenbrauen. Babel warf Judith einen
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