Babylon: Thriller
Streifenwagen kam. Er rollte langsam an mir vorbei und bremste dann. Der Cop auf der Beifahrerseite musterte mich kritisch. Er spürte meine Panik. Ich war geliefert. Aber zu meiner Überraschung blieben die Polizisten nur eine knappe halbe Minute stehen, ehe sie wieder Gas gaben und weiterfuhren. Ich legte den Kopf aufs Lenkrad, während die nächtlichen Ereignisse auf mich einstürzten.
Ich brauchte einen Ort, um zur Ruhe zu kommen und nachzudenken. Nach Hause zurückzukehren, verbot sich sozusagen von selbst. Vorerst jedenfalls. Eris hatte meine Visitenkarte mit der Geschäftsadresse. Der einzige andere Ort, der mir einfiel, war mein Lieblingsclub, der den Vorteil hatte, auf der anderen Straßenseite, genau gegenüber meiner Wohnung, zu liegen. Von dort hatte ich meinen Hauseingang im Auge und konnte unbemerkt auf Eris warten.
Ich wendete und fuhr zu Kenny’s Castaways.
Das Gebäude, in dem sich Kenny’s befand, war seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts immer eine Bar gewesen. In den 1890ern hatte der Herald es zum »übelsten Ort in New York« gekrönt. In jüngerer Zeit hatte Pat Kenny das Etablissement gekauft und berühmt gemacht. Seine legendären Bands haben mir die ersten Lektionen über gute Musik erteilt. In einer Sommernacht vor langer Zeit hatte ich am Geländer des Balkons unserer Wohnung gestanden und, verzaubert wie ein Seemann vom Gesang der Sirenen, gebannt den Klängen gelauscht, die aus der offenen Tür des Clubs drangen. Ich war damals erst acht gewesen, war jedoch stundenlang wach geblieben, bis Samuel darauf bestand, dass ich endlich ins Bett ging.
Meine Liebe zu diesem Ort und seinen Liedern hatte niemals nachgelassen.
Bei Kenny’s war die Stimmung gedämpft. Die Band spielte gerade ihr letztes Set und würde gleich die Instrumente zusammenpacken und das Lokal verlassen. Ein paar Gäste lungerten in der Nähe der Bühne herum und nippten an ihrem Bier. Ich schwang mich auf einen Hocker am Ende der Bar, wo ich gewöhnlich saß.
Diane Chen, die Bardame, hatte stacheliges, kurzes Haar in zwei Violettschattierungen und trug ein Make-up, das ihre ohnehin schon bleiche Haut geradezu geisterhaft erscheinen ließ. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie ihre Augenbrauen regelmäßig zupfte und mit einem schwarzen Stift nachzeichnete. Der Eyeliner unter ihren langen schwarzen Wimpern war auftätowiert. Ein kleiner Diamant zierte ihre Unterlippe, und ein Ohrläppchen war von einer Reihe silberner Ringe durchstochen. Wie viele Restaurantangestellte machte sie diesen Job nur, um ihre Karriere als Schauspielerin zu befördern. Bei all diesen Ohrringen, dachte ich, musste jeder Kostümwechsel die reine Hölle sein.
Sie winkte mir zu, als sie mich entdeckte, ging zum Eingang und schaute hinaus, ehe sie zu mir kam. Meine Hände zitterten immer noch. Ich klemmte sie zwischen meine Oberschenkel, damit sie es nicht bemerkte.
»Warum warst du gerade am Eingang und hast hinausgeschaut?«
»Der Restaurant-Stalker ist wieder unterwegs. Wir versuchen, ihn rechtzeitig abzuwimmeln.«
Sie sah die Frage in meinen Augen.
»Er ist so ein seltsamer Typ. Er dreht regelmäßig seine Runden im Viertel, und diese Woche ist er auf der Bleecker Street unterwegs. Er geht in eine Bar oder ein Restaurant, stellt sich mitten in den Gastraum und starrt nur in die Gegend. Das macht die Gäste nervös. Wenn wir ihm einen Fünfer geben, geht er. Keine schlechte Taktik. Besser, als sich auf den Bürgersteig zu setzen und die Hand aufzuhalten.«
Das brachte mich zum Lachen, und sie stimmte mit ein.
»Ich hab dich vermisst, John. Das mit deinem Unfall tut mir unendlich leid. Hast du meine Beileidskarte erhalten?«
Seit dem Unfall hatte ich jeden Antrieb verloren, meine Post auch nur zu öffnen. Ich bedankte mich für die Karte.
»Ich hab versucht, dich anzurufen, aber da lief nur der Anrufbeantworter.«
»Ich war für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Genau genommen für über sechs Wochen.« Das Elend des Unfalls holte mich wieder ein. »Sie mussten mich regelrecht aus dem Wagen herausschneiden. Meine Rippen waren gebrochen und eine Arterie war verletzt. Der Blutverlust hat mich so lange im Krankenhaus festgehalten, dass ich sogar Samuels Beerdigung versäumt habe. Aber ich bin jetzt auf dem Wege der Besserung.«
Sie seufzte. »Das alles ist so schrecklich. Wie ist es denn überhaupt passiert?«
»Ich stehe wie vor einer Wand, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich Samuel vom JFK
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