Babylons letzter Wächter (German Edition)
Firmen und dem gewinnbringenden Verkaufen. Menschliche Verluste waren hinzunehmen, wenn nicht sogar erwünscht. Denn es ging ihr nicht darum, die maroden Unternehmen wiederaufzupäppeln, sondern auszusaugen, bis nichts mehr an Vitalität von ihnen übrig blieb. Sie entledigte sich ihrer wie den abgenagten Knochen einer Mahlzeit. Und jedes Mal war es ein reines Festmahl. Was von den untergebenen Abteilungen, die sie gerne ihre Schwärmer nannte, auf ihren Tisch wanderte, waren reine Zahlen. Nichtssagende Computerausdrucke. Die Wenigsten dachten daran, dass jede Ziffer ein Mensch war. Jeder Buchstabe eine Existenz. Streng prüfte Sue sie auf ihre Beschaffenheit. Ihren Nährwert. Schmeckte die Existenzangst und den Schweiß des Versagens heraus wie Fußnoten. Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen. Und dann ihre größte Freude, wenn sie die armen Wichte anrufen konnte, um sie von ihrer bedauerlichen Kündigung zu unterrichten. Natürlich hätte sie es sich einfacher machen können. Vorgefertigte Rundschreiben. Oder eine kurze trockene Email. Manchmal löste dies einen viel größeren Schmerz bei ihnen aus. So vieles, was Sue delegieren hätte können. Aber sie wollte nicht. Nein, diesen Spaß behielt sie ganz für sich allein, den teilte sie mit niemanden. Denn Geizhälse lachten nur auf Kosten anderer.
*
Menschen starben, das war ein unumstößliches Gesetz. Jagten sich eine Kugel in den Kopf, sprangen vor die U-Bahn, tranken Batteriesäure. Gründe gab es viele, sich das Leben zu nehmen. Mehr als Gründe dagegen. Die meisten hielten sich mit Mühe aufrecht, geknechtet von unbarmherzigen Vorgesetzten und einer noch brutaleren Ehefrau. Der leiseste Windhauch und sie fielen um. Sie war der Wind und die Mühle. So leicht, ihnen den Todesstoß zu versetzen. Und dann, wenn der letzte Kollege gegangen war, brütete sie über den Todesanzeigen, legte sie neben die Rationalisierungslisten. Strich aus, wenn es Überschneidungen gab. Überstunden, die sie nicht abrechnete. Reines Vergnügen, keine Arbeit.
Aus Liebe zur Leiche
Tom trank ein Feierabendbier. Ein kleiner Absacker auf den Weg. Es war acht Uhr morgens, und nur diese 24-Stunden-Schuppen hatten geöffnet. Ein paar Sekretärinnen, die noch einen schnellen Kaffee vor der Arbeit tranken, bedachten ihn mit abschätzigen Blicken. Ja, es war früh am Morgen, und er trank ein Bier. Na und! Er war kein Säufer, nur ein Nachtmensch. Er würde auch bald schlafen gehen, dann hatten die Taggeschöpfe ihre Ruhe.
Die Nachtschicht machte ihm nichts aus. Im Gegenteil. Schon als Teenager hasste er den Rhythmus, den ihm die Erwachsenen aufzwangen. Er verstand es nicht, wie einer gerne morgens aufstand und sich auf den Tag freute. Was war denn so reizvoll am Tag? Die Nacht, ja, das war eine andere Geschichte. Da funkelten tausend Neonlichter wie Rohdiamanten. Tagsüber blickten sie wie die trüben Augen eines Fisches von den Reklametafeln herunter. Die Tage waren grau und eintönig. In den Nächten lebte die Stadt.
An der Uni fand er sich endlich unter seinesgleichen. Viele der Studenten waren Nachtgeschöpfe wie er. Sein Zimmergenosse war ein jüdischer Anwaltsanwärter, dem von seinem kulturellen Erbe kaum mehr geblieben waren als die letzten Locken an den Schläfen. Ansonsten neigte er zu frühem Haarausfall und einer schuppenflechtigen Kopfhaut. Ein klassischer Fall von Geldadel. Das heißt, er schlug sich mehr schlecht als Recht durch die Prüfungen, und sein Vater schoss die nötigen finanziellen Mittel zu, die sein langes Studium am Laufen hielten. Wer wusste, was auf den armen Tropf einmal warten würde, wenn Papis schützende Hand wegfiel. Es war nicht leicht, für Bürgerrechte einzutreten, wenn man sämtlichen antisemitischen Klischees entsprach.
Er war ihm deshalb so angenehm, weil er schweigsam war. Er konnte ohne Pause zu machen über Präzedenzfällen brüten, und mochten sie noch so trocken sein. Manchmal teilten sie sich stumm ein Bier, und nur der Deckenventilator war zu hören. Die Nacht hatte etwas Göttliches.
Tom hingegen kam aus ärmlichen Verhältnissen. Seine Eltern mussten sich jeden Cent mühsam vom Munde absparen. Er würde sie sehr stolz machen. Der Beweis, dass es einer aus der Familie der Philsbourg zu etwas gebracht hatte.
Die Erwartungshaltung der Familie lag auf seinen Schultern. Doch es war ein Federgewicht, denn er studierte nicht ihnen zuliebe, sondern aus eigenem Interesse. Der menschliche Körper hatte
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