Babylons letzter Wächter (German Edition)
ihn interessiert, seit er als Fünfjähriger einen anatomischen Baukasten zum Geburtstag geschenkt bekam. Stundenlang konnte er damit zubringen, die bunten Teile in dem Torso aus Plastik zu ordnen und untersuchen. Das waren die goldenen Momente seiner Kindheit, an die er sich gerne erinnerte.
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Ein weiterer Schluck Bier bahnte sich den Weg durch seine trockene Kehle. Denn die Erinnerung, die unter der perfekten Schaumkrone lauerte, würde gleich an die Oberfläche sprudeln.
Die bernsteinfarbenen Schlieren gaben das Gesicht seiner Cousine Maude wieder, wie sie durch gebrochene Zähne zu lächeln versucht hatte. Sie strich ihm durch die Haare, als wäre er es, der da auf dem Asphalt lag, und nicht sie. Dann glitt ihr Arm schlaff zu Boden und sie starb. Tom war damals acht Jahre alt gewesen, und es war das erste Mal in seinem jungen Leben, dass er mit dem Tod konfrontiert wurde. Während ein Erwachsener mit Schock und Trauer zu kämpfen gehabt hätte, weckte der Anblick in ihm eher Neugierde. Das Auto, das sie aus ihren Schuhen katapultiert und mehrere Meter durch die Luft geschleudert hatte, war mit quietschenden Reifen am Bordstein zum stehen gekommen. Eine breite Spur verbrannten Gummis markierte die Todesbahn. Über die Bande gespielt wie eine Billardkugel, mit tödlicher Präzision. Der Fahrer lag mit dem Gesicht auf dem Lenkrad. Sein Gesicht verborgen vom sanften Kissen des Airbags. Tom war das alles einerlei. Ihn faszinierten die bläulichen Darmstränge, die aus Maudes Bauch heraus quollen. Ihre edle, blasse Haut. Als die Polizei eintraf, hielt er immer noch ihre Hand.
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Im Amazonas gab es bestimmte Käfersorten, die den Boden des Dschungels säuberten. Ihre hauptsächliche Beschäftigung bestand aus fressen und schlafen. Insofern unterschieden sie sich nicht wesentlich von den meisten Menschen. Sie ernährten sich von heruntergefallenen Blättern und toten Insekten. Die Natur räumte auf. In der Zivilisation waren es Menschen wie Philsbourg, die diese unliebsame Aufgabe erfüllten. Gerade als Gerichtsmediziner sehnte sich Philsbourg nach einer Belohnung nach dem harten Tageswerk… oder während der Arbeit.
Die Leichenhalle war eine sterile weiße Zelle, in der es leicht fiel… zu vergessen, wer man war. Ungeachtet dessen, wer man draußen war. Sie war ein Gefängnis, das das Leben ausschloss und den Verstand befreite. Was selbst aus Menschen wie Tom einen Casanova machte. Im normalen Leben hatte er oft Probleme, Frauen kennen zu lernen. Sein Beruf stand ihm im Weg wie ein Holzbein oder Segelohren. Sobald sie erfuhren, womit er sein Geld verdiente, ließen sie sich am Telefon verleugnen, zogen in einen anderen Stadtteil oder änderten ihren Namen. Keine wollte sich mit den Händen anfassen lassen, die den Toten ihr letztes Geheimnis entlockten.
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Kühl lag sie vor ihm, und doch nicht abweisend. In seinem Kopf überschlugen sich Loblieder auf ihre Schönheit. Dies weiße Fleisch ohne Makel verriet ihm mehr über sie, als wenn sie mit ihm reden würde. Die Starre hatte ihre Glieder verlassen um sich weich ihm hinzugeben. Ah, diese blauen Lippen. Ihre geschlossenen Augen, als würde sie schlafen. Nur auf den Prinz wartend, der sie wach küsste. Siehst du, wie ich dich küsse? Du bleibst so still. Philsbourg begann, ihre kühle Haut zu streicheln. Ich liebe dich, verstehst du? Egal was die Anderen sagten, er liebte sie so, wie sie war. Lass mich deine Brust küssen. Es spielte keine Rolle, was die Welt von ihnen dachte, die Welt war weit entfernt. Die Kühlkammer der Gerichtsmedizin kannte ihre eigenen Gesetze. Seine Hand fuhr durch ihr Haar, liebkoste es, obwohl es leblos hing. An die Küste gespülter Seetang, fischig riechend und salzig wie vergossene Tränen. Der Tod hatte ihr mehr Leben eingehaucht als es das Leben vermochte. Ihr Schamhaar wuchs weiter, ihre Fingernägel, ihre Liebe. Du liebst mich doch auch, ich weiß es. Lass mich dir dieses Schild an deinen Zeh anlegen, als Unterpfand unserer Liebe. Es soll eine Ehe vollziehen, die im Leben nie vollzogen wurde. Philsbourg würde sie nie schlecht behandeln. Ich tue, was du willst. Sag mir, was du willst und ich tue es. Im Licht der Neonröhren schwörte er ihr seine Liebe, wie es kein Mensch vor ihm getan hatte. Was bedeuteten ihr wohl Äußerlichkeiten. Störte sie sich an seinen Gummihandschuhen? Oder an seiner verschmierten Schürze? Zählten nicht die inneren Werte? Zu schade, dass er sie nicht fragen konnte.
Die Zeit
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