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Babylons letzter Wächter (German Edition)

Babylons letzter Wächter (German Edition)

Titel: Babylons letzter Wächter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Reich
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drängte. Denn schon bald nahm der Verwesungsprozess sie ihm weg. Sie zerfiel und mit ihr seine Liebe. Er würde zu ihr stehen bis zum bitteren Ende, da konnte sie unbesorgt sein. Und wenn Gase aus ihrem Leib aufstiegen, würde er sie Wohlgeruch heißen. Ein letzter Kuss, bevor die Zeit sie trennte. Noch einmal seine Hand auf ihrem erkalteten Körper. Ich will dich und du willst mich. Diesen Augenblick genießen. Seine Zunge glitt über ihre Scham. Ihr toter Mund rieb an seinem Glied. Wie zärtlich die Toten doch sein konnten. Waren es die Kräfte der Zersetzung oder die Säfte der Lust? Nein, sie war wohl feucht. Er führte seinen Stab ein wie das Messer, das sie zu ihm brachte. Ein Symbol der Liebe statt der Zerstörung. Du brauchst nichts zu sagen. Lass mich für dich in Anstrengung keuchen, für dich stöhnen. Ihre Stille erregte ihn umso mehr. Oh ja, ja, ja!
    Ich wusste, dass wir keine Zukunft hatten. Trotzdem blieb die Erinnerung an diesen Abend. Nur wir zwei. Es kostete Philsbourg Überwindung, die Arbeit wieder aufzunehmen. Dieses Skalpell sollte sie ihrer Schönheit berauben, sie obduzieren für einen Bericht, den er über sie schreiben musste. Dabei wäre es umso schöner gewesen, über ihre Liebe zu schreiben. Doch das verstand keiner dieser Bürokraten. Nur sie.
    Sie waren nicht mehr ungestört, Philsbourg hörte seine Kollegen nahen. Ein letzter Kuss zum Abschied. Sie ließ ein gebrochenes Herz zurück. Ein Abschied für immer? Nein! Sie würden sich wieder sehen. An ihrem Grab würde Philsbourg den Sarg nässen mit den Tränen des verlassenen Ehemanns. Nicht trauernd um ihren Tod, sondern in Freude auf ein Wiedersehen im Himmel.
     
     
    Alchimie der Angst
     
    Anfängerseminar der Trust Agency
    „Herzlich willkommen bei unserem Seminar. Mein Name ist Parker Brown, und ich bin heute Abend ihr Supervisor. Vor sich finden sie einen Stift und einen Kartonrücken. Ich möchte sie bitten, ihre Namen einzutragen. Bei uns gibt es keine Nummern, nur echte Menschen.“
    Zufrieden hörte Parker das mannigfache Kratzen von Filzern über Papier. Es war Musik in seinen Ohren. Die neuen Rekruten sollten sich entspannen. Während sie fürs Erste beschäftigt waren, versuchte Parker einen besseren Eindruck von ihnen zu gewinnen. Er war ein alter Hase im Geschäft. Seinem geschulten Blick entging kein Handstrich. Da waren diejenigen, die ihren Namen missmutig niederschrieben. Die Ehrgeizigen, die fast das Papier durchbohrten. Die ruhigen, geflissentlichen Burschen, die jede Silbe fast zu malen schienen. Seine Erfolgsquote lag bei siebzig Prozent. Einer der Gründe, warum er wieder und wieder zum Mitarbeiter des Monats gewählt wurde. Ihr System war so einfach wie ein Kettenbrief: Das Geld floss von unten nach oben. Er war in der Hierarchie bereits auf einer höheren Ebene angekommen, und hatte nun die Wahl, ob er sich zurücklehnte oder noch weiter aufsteigen wollte.
    „ Ich denke die meisten von ihnen sind auf Empfehlung eines guten Freundes gekommen. Das ist gut so. Wir sind ein exklusiver Club. Wenn sie es bis hierhin geschafft haben, können sie sich voller Stolz zu den Besten zählen. Nun, wie sie sicher wissen, verkaufen wir Versicherungen. Viele Firmen haben sich darauf spezialisiert. Warum also sind wir so erfolgreich?“
    Er riss ein Blatt vom Ständer. Darauf stand ein einzelnes Wort: Angst.
    „Was fällt ihnen dazu ein?“
    „ Ratenzahlungen.“
    „ Krankheit.“
    „ Feuer.“
    „ Unfälle.“
    „ Arbeitslosigkeit.“
    „ Impotenz.“
    „ Sehr originell. Weiter so.“
    „ Unwetter.“
    Jeden Einfall notierte Parker neben auf dem Board. Am Ende zog er einen Kreis um das Wort Angst. Von dieser Superzelle aus zeichnete er Verbindungsstränge zu den anderen Wörtern.
    „Und so schnell geht die Sonne auf. Was ich ihnen mit diesem kleinen Brainstorming zeigen wollte, war die Möglichkeit, etwas Negatives in eine strahlende Sonne zu verwandeln. Sehen sie, jeder fürchtet sich vor etwas. Die Höhlenmenschen verkrochen sich vor dem Säbelzahntiger. Die Christen vor den Römern. Die Juden vor den Nationalsozialisten. Und heutzutage? Wir haben unsere Ängste kultiviert. Wir rauchen, um dem Tod zu trotzen. Haben ungeschützten Verkehr, um den ursprünglichen Kitzel zu spüren. Und ich sage ihnen, dieser Kitzel ist die pure Angst. Sie steckt in jedem von uns. Es ist uns nur gelungen, sie zu verdrängen.
    In Wirklichkeit braucht kein Mensch eine Versicherung. Was nützt dem Krüppel seine Unfallversicherung,

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