Back to Blood
heruntergekommen, voller Nicaraguaner und weiß Gott wem sonst noch, und hatte nach Nestors Meinung große Ähnlichkeit mit einem Slum. Kubaner würden nie still in einem Slum sitzen bleiben. Kubaner waren von Natur aus ehrgeizig. Also parkte jeder Mann, der ein Fahrzeug mit Firmenaufschrift hatte und beweisen wollte, dass er ein wenn auch noch so kleiner Unternehmer war, seinen Wagen großspurig vor dem Haus. CAMACHO FUMIGA DORES ! Das plus dem Grady-White-Cruiser in der Einfahrt bewiesen, dass Camilo Camacho kein Kubaner der Arbeiterklasse war. Schätzungsweise einer von fünf Besitzern einer casita in Hialeah hatte irgendeine Art von Cruiser, der hoch auf einem Anhänger thronte, sehr hoch. Cruiser hieß, dass das Boot zu groß war, um als »Motorboot« verunglimpft zu werden. Der Bug ragte normalerweise weit neben dem Haus hervor. Die Hänger waren so hoch wie Podeste … das ging manchmal so weit, dass daneben die casita selbst verschwindend klein aussah. Jetzt im Dunkeln kamen Nestor die Umrisse der Boote wie die von Raketen vor, die jeden Augenblick abheben konnten. Nestors Alter Herr hatte den gleichen Werbegrafiker kommen lassen, damit er ihm die gleichen glänzend glasigen Buchstaben auf den Rumpf des Grady-White-Cruisers malte. LAS SOMBRILLAS DE LIBERTAD stand da, »Die Sonnenschirme der Freiheit«. Der Name stand für das große Jugendabenteuer seines Alten Herrn, bei dem es um Leben und Tod gegangen war. Wie Magdalenas Familie stammten auch Camilo und sein Vater, Nestors Großvater, aus Camagüey, waren Bauernjungen. Nestors Großvater träumte von einem Leben, in dem er kein Zuckerrohr mehr schneiden, keine Ställe mehr ausmisten und keinem Pflug mehr hinterherlaufen musste. Er lechzte nach Stadtleben. Er ging mit seiner Frau und seinem Sohn nach Havanna. Kein guajiro mehr! Er war jetzt ein vollwertiger Proletarier! Als endlich freier Mann bekam der neue prole Arbeit in den Malecón-Wasserwerken, als Inspektor in der Sektion Abwasserreinigung. »Inspektor« hieß, dass er sich Gummistiefel anziehen und im Dunkeln mit einer Taschenlampe, gebückt wie ein Gnom, durch Abwasserrohre gehen musste, in denen Ströme von Scheiße und anderem widerwärtigem Auswurf flossen und gelegentlich sogar über seine Stiefel schwappten. Obendrein war es nicht wohlriechend. Das war nicht das Stadtleben, das er sich vorgestellt hatte. Also bauten er und Camilo im Keller ihres proletarischen Wohnblocks in Havanna heimlich eine primitive Jolle. Sie stahlen zwei große Café-Sonnenschirme, als Segel … und als Schutz gegen die Sonne. Eines Nachts stachen Camilo, seine Eltern und Lourdes, Camilos Freundin (zu gegebener Zeit seine Frau und Nestors Mutter), Richtung Florida in See. Sie starben fast hundertmal, zumindest wenn sein Alter Herr die Geschichte erzählte (was er öfter als hundertmal tat), an Sonnenstich, Dehydration, Hunger, Stürmen, turmhohen Wellen, blindwütigen Strömungen, Gegenwind, Windstille und Gott weiß was sonst noch für Winden, bevor sie zwölf Tage später mehr tot als lebendig Key West erreichten.
Nun, Nestor hatte jetzt sein eigenes Heldenepos … das er ihnen erzählen konnte. Er konnte es kaum erwarten. Er hatte dreimal aus der Marina angerufen. Jedes Mal war besetzt gewesen, aber vielleicht war es besser so. Dann konnten sie das Epos aus seinem eigenen Mund hören … während ihr junger Held vor ihnen stand und ihre Gesichter beobachtete, die ihn mal leuchtend, mal lechzend anschauten.
Wie immer parkte er den Camaro auf dem schmalen Streifen Einfahrt zwischen Gehweg und Boot.
Als er das Haus betritt, erwartet ihn sein Vater mit vor der Brust verschränkten Armen und seinem Ich-Camilo-Camacho-Herr-über-dieses-Reich-Gesichtsausdruck … dessen herrschaftlicher Auftritt ein wenig durch die Tatsache beeinträchtigt wird, dass er ein T-Shirt trägt, das ihm aus seiner blauen Relaxed-Fit-Jeans heraushängt … Die verschränkten Arme drücken von oben auf seine Wampe, die auch vom Gürtel der tief sitzenden Jeans nach oben gedrückt wird und unter dem T-Shirt wie eine Wassermelone aussieht. Nestors Mutter steht einen halben Meter hinter Ich-Camilo. Sie schaut Nestor an, ihr drittes Kind, ihr letztgeborenes Baby, als sei er eine kleine Flamme, die eine Lunte entlangzischt, bis —
— Kra-wuuummm! — Ich-Camilo-Camacho explodiert:
»Wie konntest du einem Mann von deinem eigenen Blut das antun? Er ist achtzehn Meter von der Freiheit entfernt, und du verhaftest ihn! Du verdammst ihn zu Folter und
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