Back to Paradise (German Edition)
hörst du mir mal zu«, sage ich. Dann beuge ich mich über den Tisch, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen und um sicherzugehen, dass sie mich laut und deutlich vernimmt. »Nur weil du aus zerrütteten Verhältnissen kommst, hast du noch lange nicht das Recht, dazusitzen und dermaßen unverschämt zu sein.«
»Klar habe ich das«, schießt sie zurück. »Ich wette, deine Eltern haben einen Haufen Kohle …«
»Meine Mom arbeitet als Kellnerin in einem Diner.«
»Aber wetten, dein Dad ist kein Alkoholiker …«
»Woher soll ich das wissen?«, sage ich. »Mein Dad hat meine Mom verlassen. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Oh, und ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass ich mich in den Jungen verliebt habe, der dafür im Gefängnis war, mich angefahren zu haben. Eigentlich hätte ich nicht mal mit ihm reden sollen. Dann ist er auch in diesem Programm gelandet, aber jetzt redet er nicht mehr mit mir, und ich soll so tun, als wären wir bloß Freunde, und ich habe Angst, ihn zu verlieren, obwohl ich weiß, dass es dämlich ist, weil ich ihn sowieso längst verloren habe … und nichts davon wäre passiert, wenn es den Unfall nicht gegeben hätte. Also fahr bitte nicht wie der Teufel, wenn du hier rauskommst, sonst endest du noch mit einer permanenten Behinderung, ohne Freund und als Outcast der Schule.«
Anstatt einzuschlafen oder mich blöd anzumachen, starrt sie mich jetzt mit großen Augen an. »Na schön. Du hast deinen Standpunkt klargemacht. Ich hab’s kapiert.«
»Danke«, erwidere ich und meine es auch so.
»Findest du es ätzend, wenn die Leute dich beim Laufen anstarren?«, fragt sie.
Als ich aus dem Krankenhaus kam, wollte ich anfangs noch nicht mal aus dem Rollstuhl steigen, weil ich wusste, dass ich mit meinem abartig starken Humpeln mehr Blicke auf mich zog als im Rollstuhl. Ich hasste die Blicke.
»Ich hasse es, angestarrt zu werden, aber ich versuche, es auszublenden«, erzähle ich ihr. »Ich gebe zu, es gibt mir das Gefühl, die Hauptattraktion einer Freakshow zu sein.« Ich senke den Blick und spreche aus, was ich nicht gern in Worte fasse, aber es ist die reine Wahrheit. »Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünschte, der Unfall wäre nie passiert und ich wäre noch normal. Es beschäftigt mich jeden Tag.«
»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht bereue, das getan zu haben, weswegen ich eingesperrt wurde«, sagt sie.
»Ich weiß nicht, ob ich dich fragen darf, wieso du hier bist.«
»Lass uns einfach sagen, ich habe jemanden sehr schlimm verletzt«, sagt sie zu mir und konzentriert ihren Blick auf einen Punkt an der Wand hinter mir. Vielleicht möchte sie nicht Zeuge meiner Reaktion werden.
Ich betrachte die Wärterin, die vor der Tür Wache schiebt, sowie Ms Bushnell am anderen Ende des Raumes. Sie behalten die Insassinnen im Auge. Ich frage mich, ob es Momente gibt, in denen sie nicht beobachtet oder beurteilt werden. Ich denke an Caleb, der mir erzählt hat, wie sehr er es gehasst hat, jede Sekunde des Tages von den Wachen beobachtet zu werden. Ich frage mich, wie er damit klarkommt, wieder hier zu sein.
»Es muss schrecklich hier drinnen sein«, murmle ich.
Das Mädchen zuckt mit den Schultern. »Eigentlich ist es gar nicht so übel. Es ist besser als zu Hause. Ich schätze, ich bin nicht gerne hier, weil es mich daran erinnert, was ich getan habe. Ich habe dieses Mädchen verletzt. Die Erinnerungen an jene Nacht bescheren mir regelmäßig Albträume. Ich habe darüber nachgedacht, ihr einen Brief zu schreiben, aber sie würde ihn wahrscheinlich wegwerfen, ohne ihn zu lesen.«
»Du solltest es versuchen. Dir wird es wahrscheinlich besser gehen, wenn du es aufschreibst.«
»Das glaube ich nicht.«
»Denk einfach darüber nach.«
»Ihr habt noch eine Minute, Ladys!«, verkündet Ms Bushnell lautstark. »Verabschiedet euch und stellt euch neben der Tür auf.«
»Hm, ja, es war cool, dich kennenzulernen«, sagt das Mädchen. »Es durften heute diejenigen mit euch reden, die sonst keinen Besuch kriegen. Es ist ätzend, wenn am Besuchstag keiner deinen Namen aufruft, also, ähm, danke, dass du hier warst.« Sie räuspert sich. »Ich bin Vanessa. Meine Freunde zu Hause haben mich V genannt, aber um ehrlich zu sein, habe ich keine Freunde mehr.«
Ich hebe die Hand. Ms Bushnell kommt zu uns rüber. »Gibt es ein Problem?«, fragt sie.
»Nein«, versichere ich ihr rasch. »Ich wollte nur wissen, ob ich Vanessas Adresse haben kann … damit wir uns schreiben
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