Backup - Roman
leidenschaftlich engagierte,
stämmige Frau, die sich an einem verschlafenen Morgen mitten im Semester in meinem Soziologiekurs das Mikrofon schnappte. Eintausendneunhundert Studenten füllten den Versammlungssaal bis zum Bersten, eine graue Masse von Kaffee trinkenden Langeweilern, die nur ihre Stunden absaßen und schlagartig erwachten, als die schrille Predigt der Frau über ihre Köpfe hinwegfegte.
Ich wusste von Anfang an, was kommen würde. Der Professor stand unten auf der Bühne, ein verschwommener Fleck mit Krawattenmikrofon, und schwadronierte gerade über seine Dias, als plötzlich das Chaos ausbrach: Ein Dutzend Studienabsolventen stürmte die Bühne. Sie trugen Billigklamotten, wie sie an der Uni damals Mode waren: zerknitterte Jogginghosen und schäbige Sportjacken. Fünf von ihnen bildeten eine Kette und bauten sich vor dem Professor auf, während die sechste Person, die stämmige Frau mit dem dunklen Haar und dem auffälligen Leberfleck auf der Wange, ihm das Mikro abnahm und an ihr eigenes Revers heftete.
»Aufgewacht, aufgewacht!«, rief sie, und mir wurde bewusst, dass diese Sache ernst gemeint war: Das hier stand nicht auf dem Lehrplan.
»Na los, hebt die Köpfe! Das hier ist zur Abwechslung mal keine Einpaukstunde. Der Fachbereich Soziologie der Universität von Toronto
steht unter einer neuen Verwaltung. Wenn ihr eure Palmtops auf Empfang schaltet, schicken wir euch sofort die neuen Lehrpläne rüber. Wenn ihr eure Palmtops vergessen habt, könnt ihr die Lehrpläne später runterladen. Ich werde euch den Lehrplan aber sowieso gleich erläutern. Aber bevor ich damit anfange, möchte ich eine vorbereitete Erklärung verlesen. Ihr werdet diese Erklärung wahrscheinlich noch ein paar Mal in euren anderen Kursen hören. Macht nichts, sie ist es wert. Also:
Wir lehnen die tyrannische Spießerherrschaft der Professoren über diesen Fachbereich ab. Wir wollen Kanzeln, von denen wir das Evangelium der Bitchun Society predigen können. Ab sofort übernimmt eine Projektgruppe, das Ad-hoc des Fachbereichs Soziologie an der Universität von Toronto, hier die Leitung. Wir versprechen euch einen Lehrplan, der das tatsächlich Wesentliche umfasst. Besonderes Gewicht legen wir dabei auf die Reputationsökonomie, die soziale Dynamik von Gesellschaften, die die Mangelwirtschaft überwunden haben, und auf Theorien über die sozialen Auswirkungen unbegrenzter Lebenserwartung.
Kein einschläfender Durkheim mehr, Leute, stattdessen befassen wir uns jetzt mit dem Kälteschlaf! Das wird ein Riesenspaß.«
Sie unterrichtete den Kurs wie ein Profi – man merkte ihr an, dass sie ihre Vorlesung lange einstudiert hatte. In regelmäßigen Abständen bebte
die Menschenkette hinter ihr, wenn der Professor ausbüchsen wollte und daran gehindert wurde.
Um Punkt 9 Uhr 50 entließ sie den Kurs, der ihr an den Lippen gehangen hatte. Statt rauszumarschieren und sich zur nächsten Lehrveranstaltung zu begeben, erhoben sich alle eintausendneunhundert Studenten wie ein Mann und fingen an zu tuscheln. Ein vielstimmiges »Ist das zu fassen?« folgte uns bis ins Foyer und zu unserer nächsten Begegnung mit dem Ad-hoc des Fachbereichs Soziologie.
Dieser Tag war einfach cool. Ich hatte ein weiteres soziologisches Seminar, in dem es um Formen und Deutungen sozialer Abweichung ging, und dort bekamen wir denselben Crashkurs verpasst, dieselbe aufrührende Propaganda, und konnten uns noch einmal über einen Ordinarius amüsieren, der vergeblich gegen eine Wand von Ad-hocs anrannte.
Als wir den Saal verließen, bestürmten uns Reporter, hielten uns Mikrofone vor die Nase und bombardierten uns mit Fragen. Ich streckte beide Daumen hoch und sagte mit der typischen Eloquenz eines Studienanfängers lediglich »Bitchun! «
Die Professoren schlugen am nächsten Morgen zurück. Ich wurde durch die Nachrichten vorgewarnt, als ich mir gerade die Zähne putzte: Der Dekan der Soziologischen Abteilung erklärte einem
Reporter, man werde die Kurse der Ad-hocs nicht anerkennen, es handle sich um eine Bande von Kriminellen, die für den Unterricht völlig unqualifiziert seien. Ein Wortführer der Ad-hocs hatte in einem Interview Gelegenheit zur Gegendarstellung und behauptete, alle neuen Dozenten hätten bereits seit Jahren Lehrpläne und Vorlesungsmanuskripte für die Professoren ausgearbeitet, die sie jetzt ersetzen wollten, darüber hinaus hätten sie auch die meisten der von den Professoren publizierten Fachaufsätze verfasst.
Die Professoren
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