Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
Vom Netzwerk:
Hütte.«
    Sebastian lachte. »Also, für mich sind das ein schwarzer Hemdkragen, ein Kinn, die untere Hälfte einer Wange und eine Warze oder ein Muttermal.«
    Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Sebastians Bewegungen kamen mir unendlich langsam vor, als würden sie von einer zähflüssigen Luft gebremst. Der Wattebausch an der Spitze des Holzspießes kroch in Zeitlupe über die Bildfläche. »Meine Bilder«, hatte Bacon gesagt, »sollen aussehen, als sei ein menschliches Wesen durch sie hindurchgegangen und hätte eine Spur von menschlicher Anwesenheit und die Erinnerung an vergangene Ereignisse hinterlassen wie eine Schnecke ihren Schleim.« Und jetzt sah ich dabei zu, wie eine weiße Schnecke über sein Kinn kroch.
    Ich schloss die Augen und öffnete sie erst nach fünf Minuten wieder. Keine sichtbare Veränderung. Ich lief kreuz und quer durch das Atelier und zündete eine Zigarette an der nächsten an. Verzog mich in die kleine Küche und kochte uns Tee. Verbrannte mir beim Eingießen beinahe die Finger. Vom Fenster aus konnte ich die Uhr eines Kirchturms sehen. Die Zeiger rührten sich nicht von der Stelle.
    »Zappel nicht so rum«, sagte Sebastian, »du machst mich ganz nervös, und ich brauche eine ruhige Hand.«
    Als er mich wieder zu sich rief – nach Stunden, wie mir schien – , war seine Stimme heiser vor Aufregung. Ich beugte mich über das Bild.
    Die langen Wimpern über dem linken Auge, der spiegelnde Nasenflügel und die geschwungene Braue waren klar zu erkennen.
    »Ich fasse es nicht«, sagte Sebastian. Er sprang auf, fasste mich bei den Schultern und schüttelte mich. »Du hast recht gehabt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du recht hast.«
    Er nahm mir die Zigarette aus der Hand und nahm einen Zug. »Mein Freund, die Schwermut in Person, klärt einen legendären Kunstraub auf. Tut mir leid, wenn ich dich unterschätzt habe. Ich bin beeindruckt.«
    Er setzte sich wieder hin. »Glaubst du, der alte Blohm hat es selbst gestohlen?«
    Ich dachte an Leonhards Foto im Flur von Lady Catherines Haus.
    »Nein. Ich glaube, er ist da irgendwie hineingeraten.«
    »Interessant«, sagte Sebastian. »Du hast ihn nie kennengelernt, aber du verteidigst ihn.«
    »Ich mag seine Witwe«, sagte ich.
    Sebastian grinste. »Gut, dann nehmen wir an, er hat das Bild jemandem halblegal abgekauft. Einem Hehler. Aber warum hat er es dann so aufwendig übermalen lassen? Es hätte doch genügt, es einfach in seinem Giftschrank zu verstecken.«
    Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht wollte er unbedingt sichergehen. Er tat eben beides, um jedes Risiko zu vermeiden. Er war wohl ein sehr vorsichtiger Mensch. Nur einmal hat er die Nerven verloren: als er die Nummer auf dem Plakat angerufen hat.«
    »Auf jeden Fall werden wir heute ein Glas auf ihn heben«, sagte Sebastian. Er wandte sich wieder dem Bild zu. »Aber bevor wir feiern, lass es mich zu Ende bringen.«
    Es überraschte mich selbst, dass sich bei mir keinerlei Hochgefühle einstellten.
    Sebastians Erregungskurve stieg steil nach oben, mit jeder Bewegung seines Wattestäbchens, meine hingegen bewegte sich auf die waagrechte Achse zu.
    Vergeblich, sagte eine Stimme in mir, alles vergeblich.
    Was immer auf dieser Kupfertafel war, es konnte mich nicht retten.

 
    IV
    Ein Anfang
    Juli 2004 – Oktober 2005

 
    Eins
     
    Mein Zeitgefühl erholte sich nie wieder ganz von diesem Nachmittag. Manchmal konnte sich eine Woche ins Unermessliche dehnen, dann wieder war ein Monat im Nu verflogen.
    Nach Ereignissen kann man süchtig werden, und der ereignislose Alltag erscheint einem dann im Augenblick des Erlebens wie eine quälende Phase des Entzugs, während er in der Erinnerung zu einer weiten leeren Fläche verkommt, einem versteppten Gelände ohne Vermessungspunkte.
     
    Andererseits war es ja nicht so, dass sich nichts mehr ereignet hätte. Die Ereignisse fanden nur ohne unsere Beteiligung statt. Ende August erschütterte ein Skandal die Kunstwelt. Kurz vor der Versteigerung der Sammlung Ribbeck durch Sotheby’s entdeckte ein Mitarbeiter des Auktionshauses, dass das im Katalog bereits als Sensation angekündigte »bisher unbekannte« Porträt Francis Bacons eine Fälschung war. Ribbeck junior geriet in den Verdacht, Sotheby’s bewusst ein Falsifikat untergeschoben zu haben. Doch die Tatsache, dass selbst die Experten des ehrwürdigen Hauses einige Zeit benötigt hatten, um das Imitat zu entlarven, entlastete Ribbeck und bewahrte ihn schließlich davor, wegen

Weitere Kostenlose Bücher