Bad Moon Rising
gibt keine Nervenenden in der Nabelschnur, deshalb spüren weder Mutter noch Baby den Schnitt. Dennoch versetzte mir der Gedanke einen Stich, sie durchzuschneiden. Mir, die ich Menschen zerriss und fraß. Geschieht dir re–
Cloquet hustete, und mir wurde klar, dass mich dieses Geräusch geweckt hatte. Ich drehte mich nach ihm um und sah, dass er auf dem Boden mit dem Rücken zur Couch saß und sich einen Notverband an eine Wunde in der linken Schulter hielt. Er war blass, hager und blutbefleckt. Hände und Gesicht waren vom Sprung durch die Scheibe übel zugerichtet. Ein tiefer Schnitt über der Augenbraue musste genäht werden. Seine Haare waren dreckig. Ich wusste, zu all seinen Verletzungen dürfte ihm auch noch der Schädel brummen. Das alles ging mir durch den Kopf, aber diese Gedanken taten nur wenig gegen die fortdauernde pochende Gewissheit, was die Vampire getan hatten, und ich hatte nichts dagegen unternommen.
»Wie schwer bist du verletzt?«, fragte ich.
»Durchschuss. Du?« Er sah mich nicht direkt an, denn trotz der Jacke war recht viel von mir zu sehen, und er war noch immer seltsam heikel bei alldem.
»Mir geht’s gut«, antwortete ich. »Sie haben ihn mitgenommen.«
»Ich weiß. Tut mir leid.«
Sie haben ihn mitgenommen. Wieder über Sprache zu verfügen machte es präzise und hässlich und real. Plötzlich war da dieser leere Raum in mir, das Loch, das bleibt, wenn der Avocadostein fehlt, schockierend, roh, grundsätzlich. Im Zimmer schwebte noch die beißende Erinnerung an das, was mit meinem Sohn geschehen war, wie der Korditgeruch nach einem Schusswechsel. Ich sah, wie sie mich mit den Spießen durchbohrten, mir die Finger von dem warmen Körper bogen, ihn in den Sack stopften. Ich sah mich festgenagelt, spürte, wie sich die dunkle Masse des Hubschraubers hob, höher, weiter, leiser, stiller, fort. Die mentale Wiederholung erfüllte mich mit Anti-Energie, einer sich selbst erneuernden Schwäche. Der leere Raum war nicht leer. Er war voller Versagen.
Ich stellte mir vor, wie ich zu Cloquet sagte: »Ich hole ihn zurück.« Ich sah die Zukunft vor mir, die ich mit dieser Verpflichtung einherging, all die Dinge, die ich tun musste, Jakes verhasster Schrottplatz voller Wenns und Abers, die Gewissheit, dass ich ihn nicht zurückholen, sondern bei dem Versuch umkommen und meine Tochter als Waise zurücklassen würde. Ich darf nicht an sie denken. Ihr Bruder hatte sie zurückgelassen, damit ich niemals vergaß, was ich zugelassen hatte – und warum. Wieder stellte ich mir vor, wie ich zu Cloquet sagte: »Ich hole ihn zurück.« Ich wusste, das hätte ich sagen sollen. »Dieses Kalb«, so die Stimme des Kommentators im Tierfilm, »ist von seiner Mutter verstoßen worden. Schwach und schutzlos ist es das leichte Opfer von Raubtieren, die nach schneller Beute suchen.« Ich dachte, wie lange es wohl dauern würde, bevor ich wieder Freude daran hatte, mir ein Paar schöner Schuhe zu kaufen, abends am Strand zu spazieren oder mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette im Café zu sitzen und Wildfremde vorbeigehen zu sehen. Wahrscheinlich nie wieder. Unter anderem hasste ich ihn dafür, mir entrissen worden zu sein. Ich hätte darüber lachen können. Eine andere Art von Komik, nicht sinister schwarz, sondern die Farbe von Nichts.
Ein Wolf erhob sich, reckte sich, gähnte. Ein drittes Mal stellte ich mir vor, wie ich zu Cloquet sagte: »Ich hole ihn zurück.« Die Nerven in meinem Mund verkümmerten.
»Das war sie«, krächzte Cloquet.
»Was?«
»Die Frau. Die Vampirin. Das war Jacqueline Delon.‹
›Au revoir, Talulla.‹ Es war mir aufgefallen, dass sie meinen Namen kannte. Nun, jetzt kannte ich ihren. Jacqueline Delon. Jake hatte mit ihr geschlafen (und seinem Tagebuch zufolge hatte er sie oral befriedigt, wie ich mich erinnerte), wofür ihn mein veraltetes Ich verabscheute, unfairerweise, da ich ja nur zu gut wusste, wie es während des Fluchs war. Das letzte Mal hatte er sie gesehen, als sie von – ach ja, eben jenem kleinen grauhaarigen Vampir mit der netten Art als menschlicher Schutzschild missbraucht wurde. Aber sie hatte überlebt. Und irgendwie war sie ihm nun überlegen, wenn ich die Dynamik richtig deutete.
»Ich dachte, sie sei tot«, erklärte ich.
»Moi aussi.« Er war in sie verliebt gewesen. Die Auswirkungen davon waren deutlich. Ich war erstaunt, dass er in der Lage gewesen war, mich zu täuschen. Ich hätte wieder auflachen können.
»Calme toi« , sagte er, Gedanken
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