Bad Moon Rising
Neben anderen Dingen ging mir auf, dass ich mich an Calebs Gestank gewöhnte.
39
Für eine Weile las ich Jakes Tagebuch. Selbstzerfleischende Flucht: Heathrow, das Plaza, die lange Fahrt westwärts nach Big Sur; Liebe, Liebe, Liebe – aber auch etwas über Madeline. Jetzt, wo ich sie kannte, konnte ich nicht anders. Keine gute Idee in meinem Zustand. Die Liebe tat mir im Herzen weh, und der Sex (Jakes und meiner, aber um ehrlich zu sein, auch Jakes und Madelines) machte mich schmerzlich an. Und im Hinterkopf tauchte immer wieder Walker auf. Ich wollte sein Gesicht sehen, seine Stimme hören. Ich überlegte schon – mit einem inneren Grinsen, wie sehr Jake mitgefühlt hätte –, einfach die Kröte zu schlucken, mich in die Ecke zu drücken und Hand an mich zu legen. Aber das ließ ich. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Murdoch zusah. Mit demselben Gesichtsausdruck, mit dem er auch Hoyle zu Tode geprügelt hatte. Eine scheinbar sehr lange Zeit lag ich auf dem Rücken und versuchte, an alles Mögliche zu denken – die Formel für quadratische Gleichungen, Graham Greenes Romane, die Reihenfolge der amerikanischen Präsidenten –, nur nicht an Sex. Weil selbst der Werwolfkörper eine ehrenwerte Maschine ist, schlief ich schließlich ein.
Als ich aufwachte, lag Caleb auf dem Rücken und starrte mit seinen nagelneuen Augen die Decke an.
»Hey«, sagte ich.
Er drehte sich nicht zu mir um. Natürlich nicht: Die heruntergezogene Hose, die entblößten Genitalien, die Erniedrigung durch einen Mann, die Lästereien über Impotenz und Freundin. Ein Siebzehnjähriger in einem vorpubertären Körper. Je länger ich darüber nachdachte, umso deutlicher wurde mir, dass es für ihn nicht hätte schlimmer sein können. Und er war schon seit einundzwanzig Tagen hier. Wie oft war er im Käfig gelandet?
Ganz instinktiv wollte ich kein Wort über das verlieren, was vorgefallen war. Wollte seinem Ego Zeit und Raum lassen. Doch je länger ich darüber nachdachte, umso deutlicher wurde mir, dass das nichts helfen würde. Er würde es bemerken, bemerkte es schon jetzt an der Stille, während ich noch alles durchdachte. Es würde ihn bevormunden, würde das Leid noch vergrößern, nicht mildern. Ich musste mich selbst daran erinnern, dass er kein Kind mehr war.
»Tut mir leid, was dir da zugestoßen ist«, sagte ich. Mir fiel nichts ein, was noch weniger grob war. »Falls das ein Trost ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, ich komme als Nächste dran. Wir müssen hier raus.«
Er reagierte eine ganze Weile nicht darauf. Er arbeitete noch daran, ob er die Schande hinter sich lassen konnte. Die Alternative bestand darin, mir den Rücken zuzukehren und nie wieder mit mir zu sprechen. Ich zwang mich, ihn nicht zu bedrängen. Er sollte seine Entscheidung selbst treffen.
Nach ein paar Minuten sagte er, sah mich aber immer noch nicht an: »Wie?«
»Weiß ich noch nicht. Aber ich werde morgen verlegt. Forscher kommen. Vielleicht habe ich die Chance, mir den Grundriss dieses Ladens hier anzuschauen.«
»Die werden dir Krankheiten verpassen«, erklärte er, »um zu sehen, wie dein Immunsystem funktioniert. Sie zwingen dich, Sachen zu essen, um zu sehen, was passiert, wenn du sie nicht verträgst.«
»Essen kann ich«, meinte ich. »Nur nicht die ganze Zeit.«
»Sie schneiden dir Stücke ab.«
»Oh.«
»Wird dir das weh tun?«
»Ja.«
»Aber du erholst dich wieder?«
»Sieht so aus. Alles außer dem Kopf, offensichtlich.«
»Das ist noch so etwas, worauf sie wetten. Wie lange die verschiedenen Körperteile brauchen, bis sie nachgewachsen sind.«
»Erzähl mir nichts mehr«, bat ich ihn. »Ich möchte es lieber nicht wissen. Hast du irgendetwas von dem Rest hier gesehen?«
»Nein, sie haben mich immer im Schlaf geholt. Ist aber egal. Wir werden hier krepieren.«
»Und wenn Remshi kommt?«, wollte ich wissen. »Weiß er denn nicht, wo du bist, und kommt dich holen?«
Pause. Er hatte vergessen, dass er Remshi erwähnt hatte. Ich sah zu, wie er im Geiste seine Schritte zurückverfolgte.
»Hier geht es nicht um Jesus und die verlorenen Schafe«, sagte er dann. »Es geht nicht um Liebe. Ich bedeute ihm nichts.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, dieser Haufen hier wäre fällig, wenn er kommt.«
»Das sind sie auch, aber das hat nichts mit mir zu tun. Die Menschen werden gar nicht wissen, was ihnen da zustößt. Er ist bei Tag draußen. Wir alle werden wieder bei Tag draußen sein können.«
»Wer hat dir das
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