Bär, Otter und der Junge (German Edition)
willst. Sag ihm, er soll nach San Diego zurückgehen.“
San Diego? Woher weiß sie –
Das kann nicht dein Ernst sein“, flüstere ich.
„Da ist mein voller Ernst, Bär“, erwidert sie. „Ich weiß mehr, als du denkst, und ich werde mich nicht von meinen Söhnen so entwürdigen lassen. Wenn du diese eine Sache für mich tust, kannst du Ty hier bei dir behalten, und ich werde euch nicht im Weg sein. Aber“, hierbei pikst sie mir wieder mit dem Finger in die Brust, „wenn ich irgendetwas anderes höre, wird es vorbei sein, und ich werde so schnell zurückkommen, dass dir schwindelig wird. Ty wird dir weggenommen werden und ich kann dir versprechen, dass du ihn nie mehr wiedersehen wirst.“
„Warum tust du das?“, murmle ich, und fühle, wie die Tränen in mir aufsteigen.
Sie schüttelt den Kopf. „Hast du nichts von dem gehört, was ich gesagt hab? Himmel, Bär, man sollte meinen, dass du noch immer fünf bist. Ich hab's dir gesagt: Keiner meiner Söhne ist 'ne Tunte. Keiner meiner Söhne wird jemals 'ne Tunte sein. Das werde ich nicht zulassen. Niemals.“
Ich blinzle das Brennen in meinen Augen zurück. „Dir ist klar“, sage ich schwach, „dass ich dich ewig dafür hassen werde.“
Ihre Augen werden sanfter, die Linien um ihren Mund verschwinden und für einen Moment, nur einen Moment, denke ich, dass all das ein Traum ist und wir in der Zeit zurückgegangen sind, und dass sie uns niemals verlassen hat und Ty nicht geboren wurde und ich sechs Jahre alt bin und darauf warte, dass meine Mutter etwas liebevolles zu mir sagt, darauf warte, dass sie mir zeigt, dass ich ihr etwas bedeute.
„Damit kann ich leben“, sagt sie lächelnd. „Ich werde zumindest wissen, dass ich deine Seele gerettet habe.“
„Er wird um mich kämpfen“, sage ich in dem Wissen, dass es ein letztes Aufbäumen ist. „Otter wird wissen, dass etwas nicht stimmt, und er wird um mich kämpfen.“
Sie nickt. „Das wird er vermutlich. Leute wie er sind so weich. Deshalb musst du überzeugend sein, Bär. Deshalb musst du sicherstellen, dass er nicht um dich kämpfen wird.“
„Er wird um mich kämpfen“, nuschle ich.
„Dann lass ihn. Du weißt, was auf dem Spiel steht.“
„Du kannst das nicht tun.“
„Ich bin deine Mutter, Bär. Ich kann dir alles antun, was ich will.“
„Ich hasse dich.“
„Du wirst schon darüber hinwegkommen.“
Ich lasse den Kopf hängen. „Du kannst nicht...“, doch ich weiß, dass sie kann.
„Wer ist dir wichtiger?“, fragt sie sanft. „Wer braucht dich mehr?“
Ich sehe auf, starre auf die Frau, die mir das Leben geschenkt, aber mir nichts darüber beigebracht hat.
Diesmal zuckt sie nicht zurück. „Haben wir einen Deal?“, fragt sie.
I CH KLOPFE an die Tür. Ich kann das Holz unter meinen Händen spüren, höre aber nicht das Geräusch, das es macht, denn der Sturm ist endlich losgebrochen und die Winde heulen jedes Mal in meinen Ohren, wenn ich versuche, nach oben zu kommen und zu atmen. Ich lasse meine Hand zurück an meine Seite sinken, als eine weitere Welle über meinem Kopf zusammenschlägt und mich unter Wasser zwingt. Wasser läuft in meine Nase und ich weiß, dass ich jetzt ertrinke. Ich will mich an die Oberfläche kämpfen, doch ich kann nicht. Sie ist so weit über mir, dass die Anstrengung zu viel für meinen Körper wäre.
Die Tür öffnet sich und Creed steht vor mir und sagt etwas mit verzogenem Gesicht. Seine Worte klingen unter dem tosenden Sturm, dem Toben des Ozeans, gedämpft. Ich trete, irgendetwas murmelnd, ein. Was ich sage, weiß ich nicht. Er versucht, mich am Arm zu greifen, aber ich schüttle ihn ab und gehe langsam die Treppe hinauf. Ich weiß, dass er mir folgen will, aber er tut es nicht. Ich erreiche Otters Tür und lege meine Hand auf den Knauf. Er fühlt sich kühl unter meiner Haut an, während der Donner tief in meinem Kopf und meinem Herzen grollt und ich denke, dass wenn es einen Moment gibt, den heutigen Tag zu retten, es dieser sein würde. Alles, was es mich kostet ist, meine Hand aus dem Wasser zu stoßen und einen Atemzug zu nehmen. Ein einziger ist alles, was nötig wäre. Ich versuche emporzusteigen und eine Stimme in meinem Kopf wiederholt den Moment, an dem ich zerbrochen bin –
wer ist dir wichtiger? wer braucht dich mehr?
– und es ist nicht die Stimme, sondern ihre Stimme. Irgendetwas greift nach meinem Knöchel und zieht mich weiter in die Tiefe.
Ich drehe am Knauf und die Tür öffnet sich. Licht aus dem Flur
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