Bär, Otter und der Junge (German Edition)
Bonbons.
Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, was es mit dem Leben dieser Frau auf sich hat. Diese winzige Frau, die die letzten drei Jahre Plätze in der ersten Reihe für das Drama ihrer Nachbarn hatte. Diese Frau, die anscheinend alles stehen und liegen ließ, wenn ich sie brauchte, um auf Tyson aufzupassen. Unsortierte Fragen steigen in meinem Kopf auf, auf die ich peinlicherweise keine Antworten habe. Wie ist ihr Mann (Gerald? Jonathan?) gestorben? Warum hat sie keine Kinder? Warum tut sie das alles für mich? Was in Gottes Namen, bringt diese Frau dazu, hier am frühen Morgen zu stehen, während ich zusammenbreche und der chemische Cocktail, welcher mein Dasein momentan ist, geschüttelt und gerührt wird? Und dann ist all das in einem Augenblick wieder verschwunden, als meine wahre Angst wieder an die Oberfläche kommt, etwas, mit dem ich mich herumschlage, seit ich das erste Mal den Namen meines kleinen Bruders gerufen habe.
„Was, wenn sie ihn mitgenommen hat?“, stöhne ich.
Sie schiebt mich zurück und nimmt mein Gesicht in ihre Hände, ihre Augen brennen, ihre Stimme ist aus Stahl: „Dann werden wir, Hölle nochmal, kämpfen, bis wir ihn zurückhaben. Egal, was es uns kostet.“
Mein Telefon klingelt wieder. Anna. Verflucht nochmal.
Mrs. Paquinn lässt die Arme sinken, als ich den Anruf annehme. „Anna, ich kann jetzt nicht“, sage ich harsch. „Ty ist –“
„Hier bei mir“, unterbricht sie mich. „Bär, was ist los? Er hat gegen meine Tür gehämmert und Creed sagt, deine Mom war da?“
„Er hat... was?“, ich sehe hilflos zu Mrs. Paquinn. Sie kommt zu mir und nimmt mir das Telefon aus der Hand.
„Anna? Hier ist Mrs. Paquinn. Gut, Liebes, danke der Nachfrage. Tyson? Hm-hm. Hm-hm. Nein, keine Ahnung, um was es da geht. Nein. Nein. Nur solang er sicher ist. Hm-hm. Bär wird schon wieder. Er hat sich nur ziemlich erschreckt. Nein, ich fahre ihn rüber. Ich denke nicht, dass er im Moment ein Fahrzeug steuern sollte. Okay, dann. Bye-bye.“ Sie klappt das Telefon zu und gibt es mir zurück.
„Er ist bei Anna?“, schlussfolgere ich brillant.
Sie nickt. „Anscheinend ist er heute Morgen aufgetaucht und hat gegen ihre Tür gehämmert. Er ist gesund und munter. Jetzt mach deine Tür zu und ich werden dich zu ihm bringen.“ Sie geht zurück in ihre Wohnung und greift nach dem Autoschlüssel auf dem kleinen Tisch am Eingang. Als sie sich wieder umdreht sieht sie, dass ich mich nicht bewegt habe. „Derrick, jetzt.“
Ich schließe die Tür und sie nimmt meine Hand und zieht mich die Stufen hinunter. Es ist so hell draußen. Ich versuche meine Sinne zusammen zu bekommen, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er ist in Sicherheit , sage ich mir selbst. Er wurde nicht mitgenommen. Er ist in Sicherheit . Die größeren Fragen kämpfen um Einlass; warum er zu Anna gehen wollte oder warum sie bereits von Creed wusste, was geschehen war. Ich kann diese jetzt nicht beantworten, darum schiebe ich sie von mir.
„Wir können meinen Wagen nehmen“, nuschle ich, als sie mich um die Ecke zum Parkplatz schleift.
Sie schnüffelt ein wenig. „Das ist lieb gemeint, aber um nichts in der Welt werde ich in deine Todesfalle steigen. Ich reg mich jeden Mal auf, wenn ich dich und Tyson einsteigen sehe, denn ich weiß, eines Tages werdet ihr nach Hause fahren und das Teil wird Feuer fangen.“
Ich denke nicht, dass ich schon ganz richtig im Kopf bin, denn ich verstehe nicht, wovon sie redet. „Feuer?“
„Feuer“, stimmt sie zu. „Nein, wir nehmen mein Auto. Mein Mann hat es mir, kurz bevor er dahingeschieden ist, gekauft. Gott hab ihn selig. Wir hatten nie wirklich schöne Sachen, nicht, dass diese Dinge wirklich wichtig wären. Aber eines Tages kam er in diesem großen schönen Wagen vorgefahren, ein Lächeln auf dem Gesicht, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er sagte mir, dass egal, was auch immer mit ihm geschehen würde, er würde in dem Wissen gehen können, mich wie eine Prinzessin herumgefahren zu haben.“
„Aber ist ihr Auto nicht ein Stück Sch –“
„Du schließt schön deinen Mund, Derrick McKenna! Du bist noch nicht zu alt, um ihn mit Seife ausgewaschen zu bekommen.“ Ihre Augen blitzen in meine Richtung und ich sehe sie lächeln.
„Ja Ma'am.“
Wir umrunden die letzte Ecke und sie klimpert mit den Schlüsseln, als wir auf ihren frühe-Achtziger-Jahre Caddy zugehen. Es hat die Form eines Dixie-Klos und auch die dazu passende Farbe. Sie geht auf die Beifahrerseite und
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