Bären im Kaviar
weder leicht noch warm geblieben war.
Als die Brücke schaukelte und ächzte,
dachte ich an den »Krieger«. War er wirklich so schlecht? Zumindest hatte er
doch Kabinen, um einen vor dem Wind zu schützen — und eine kleine Bar, an der
man ein Glas Wodka erstehen konnte. Sicher, er hatte Kakerlaken und Wanzen,
aber sie leisteten einem doch wenigstens Gesellschaft und hielten einen
beschäftigt. Hier auf der Brücke, einsam, verlassen, kalt, hungrig und völlig
abgeschnitten vom Leben — erinnerte ich mich des »Kriegers« mit Gefühlen, die
fast liebevoll zu nennen waren.
Ich dachte an den Paß über das
Gebirge, an die schwindelnden Abgründe — aber waren sie wirklich fürchterlicher
als der grausige Anblick, der sich mir jedesmal bot, wenn ich auf den Fluß
unter mir blickte?
Ich hockte immer noch zusammengekauert
da, als mich vielleicht eine Stunde später eine freundliche Stimme
zusammenzucken ließ: »Genosse, Sie haben keine Extrazigarette bei sich, oder?«
Es war der neue Wachtposten. Beim Anzünden der Zigarette wurde für einen
Augenblick sein junges und nicht ganz unfreundliches Gesicht beleuchtet. Dann
ging er zurück zum Brückenkopf.
Solch ein Kontakt durfte nicht wieder
unterbrochen werden.
Ich rief: »Hör zu, Freund. Ich habe
eine Packung mit zwanzig Zigaretten — amerikanischen. Wenn du mir den
diensthabenden Offizier ‘rausholst
Er blieb stehen, zögerte einen Moment
und murmelte unsicher, er könne seinen Posten nicht verlassen. »Mal sehen, was
sich nach der Ablösung machen läßt Die Zukunft lag nicht sehr rosig vor mir.
Ich kauerte mich wieder zwischen die Taschen und Mappen und versuchte, mich
nicht wegblasen zu lassen. Die Brücke ächzte, krächzte, knirschte und
schaukelte immer noch. Unten zischte und schäumte und gurgelte der Fluß. Über
dem Berge Ararat stieg der Mond hoch, und mir fiel Noah ein. Ich hätte gern gewußt,
was er wohl getan haben würde, wenn er nach der Sintflut ohne Visum in seiner
Arche festgesessen hätte.
Ich weiß nicht, wie lange ich zitternd
dort lag. Endlich rief jemand herüber: »Hallo, Genosse!« (Das war ermutigend,
denn wenn etwas Unangenehmes folgt, heißt es in der Sowjetunion stets
»Zivilist«.) Mühsam erhob ich mich und marschierte steifbeinig zum drittenmal
nach Rußland hinüber. Der Strahl einer Taschenlampe zuckte auf und blendete
mich. »Ihren Paß, bitte.« Ich fischte mit klammen Fingern das kleine Heft aus
der Tasche und hielt es in den Lichtschein vor mir. Eine Hand schnellte vor und
griff danach. »Danke.« Ich entschied schnell, daß ich diese gehäufte
Höflichkeit ausnützen müsse, und wollte kühn weitergehen — doch im gleichen
Moment wurde die Stimme eisig: »Halt, gehen Sie zurück auf die Brücke!«
Ich brummte wütend, ich würde es mir
verdammt nicht gefallen lassen, daß er mir erst meinen Paß klaue und mich dann
unidentifizierbar auf einer verrosteten Eisenbahnbrücke versauern ließe.
»Warten Sie nur, bis ich darüber nach Washington berichtet habe!« fügte ich
drohend hinzu.
Leider war allen Beteiligten nur zu
klar, daß Washington für eine ganze Zeit wenig von meinem Verschwinden erfahren
und sich noch weniger darum kümmern würde — tatsächlich nicht eher, als bis
irgend jemand in der Postabteilung die Kuriertaschen nachzählen oder ein
Personalchef die Zahl der in Betrieb gesetzten Vizekonsuln überprüfen würde.
Mir waren Fälle zu Ohren gekommen, in denen Kuriertaschen erst nach Jahren als
vermißt gemeldet wurden, und was nun gar Vizekonsuln anging...
So trottete ich also bekümmert in
meine Gepäckhöhle zurück und machte mich auf das Schlimmste gefaßt.
Vorsichtshalber klinkte ich mir noch die Sicherheitskette der »geheimen«
Kuriertasche ums Handgelenk. Es würde einen besseren Eindruck machen, wenn man
meine Leiche später aus dem Fluß fischte...
Ich kauerte mich gegen den
notdürftigen Kofferwall, und die Zeit schlich träge und zäh dahin. Als ich
endlich Fußtritte auf der Brücke vernahm, fror ich bis ins Mark und hatte
Hunger wie ein ausgewachsener Bär. Mühsam rappelte ich mich hoch. Vor mir
stoppte, exerzierplatzkorrekt, ein halbes Dutzend russischer Soldaten. Vier
davon ergriffen mein Gepäck, zwei nahmen mich in die Mitte, und ein junger
Offizier befahl mir höflich, ihm zu folgen. Innerhalb weniger Minuten befand
ich mich zwischen zwei blinkenden Bajonetten auf einem Lastwagen, der über
holprige Straßen Sowjet-Djulfa, dem anderen Djulfa oder, genauer gesagt, der
anderen
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