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Bären im Kaviar

Bären im Kaviar

Titel: Bären im Kaviar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles W. Thayer
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Kilometer
von uns entfernt — eine einzige kleine Kolchose zu sehen.
    Unter Diplomaten stellt man sich
gewöhnlich verzogene, verwöhnte und ganz und gar unpraktische Wesen vor, doch
wehe, wenn man sie sechsunddreißig Stunden ohne Nahrung läßt! Ihre
Improvisationsgabe ist in einem solchen Falle geradezu verblüffend. Der Zug
stand noch nicht ganz, als sich auch schon ein Menschenstrom aus den Türen in
die Steppe ergoß und in wildem Lauf auf die Bauernhütten zulief. Es sah aus,
als strömten die Zuschauer eines Fußballkampfes nach Beendigung des Spieles,
vor Begeisterung noch rasend, auf den Platz. In Zeit von Null Komma nichts
waren einige Dutzend Hühner, Gänse und Enten aus dem Hof gejagt. Eine Horde
Botschaftsräte und Legationssekretäre trieb sie händeklatschend und mit
zischendem »ksch, ksch« auf den Zug zu. Ein Pole und ein englischer Oberst,
«Pop« Hill, entdeckten gleichzeitig das Hühnerhaus, und zwar gerade, als ein
Arbeiter mit der Tagesausbeute an Eiern heraustrat. Er warf einen entsetzten
Blick auf seine Angreifer, setzte den Eierkorb hin, nahm die Beine auf den
Buckel und raste in Richtung Horizont davon. Pop und der Pole schnappten sich
jeder einen Henkel des Korbes und begannen zu ziehen. Sekundenlang hatte es den
Anschein, als gingen die beiden Alliierten im nächsten Moment mit den Fäusten
aufeinander los, doch dann legten sich ein paar weniger hitzige Kollegen ins
Mittel, und man einigte sich fifty-fifty.
    Als bald darauf der Lokführer zum
Sammeln pfiff, kletterte eine keuchende Schar zerzauster Plünderer wieder in
die Coupés, die Beute im Schlepptau. Sie bestand unter anderem aus einer
hübschen Anzahl von Enten, Gänsen und Hühnern, etlichen Dutzend Kartoffeln und
sogar etwas Brot. Als letzter zog sich stöhnend der jugoslawische Sekretär
Bogitsch hoch. Bogitsch wog sicher dreihundert Pfund, und sein Appetit war
märchenhaft. Ich hatte ihn während unserer gemeinsamen Dienstzeit in Hamburg
häufig einen ganzen Braten verschlingen sehen. Jetzt aber waren seine Hände
leer, sein Mantel ein einziger Schmutzfleck, seine Hosen zerrissen und mit
Dornen und Kletten bespickt. Ich erkundigte mich nach seinem Jagdglück. Er
brummte bekümmert etwas von der Relation der Schnelligkeit eines Huhnes und
eines überfetten Serben vor sich hin. Als er die Schätze sah, die sich seine
Kollegen ergattert hatten, dachte ich einen Moment, er werde zusammenbrechen.
Zum Glück hielt er sich wenigstens so lange aufrecht, bis ich schleunigst in
mein Abteil gelaufen war, eine Büchse Thunfisch geschnappt hatte und sie ihm
verstohlen in die Tasche schob. Blitzschnell erschien wieder das übliche breite
Grinsen auf seinem Gesicht, und er zog sich geschwind zu einem Festschmaus in
seine Abteilecke zurück.
    Der Kolchosenraub stillte für diesen
Tag den größten Hunger. Am nächsten Nachmittag endlich — dem dritten seit
Moskau — gelang es Molotschkow, Verbindung mit einer Station weiter voraus
aufzunehmen. Als wir ankamen, erwartete uns ein gewaltiger Kessel heißer Suppe.
    Und das war — außer unserem wie Schnee
vor der Sonne dahinschmelzenden Thunfischvorrat — das letzte Essen vor
Kuibyschew, das wir ausländischen Diplomaten fünf Tage nach der Abfahrt aus
Moskau, nach achthundert Kilometern Reise zu sechseinhalb Kilometer die Stunde,
erhielten.
    In Kuibyschew lächelte uns Fortuna
noch einmal strahlend, wenngleich kurz. Molotschkow gab bekannt, daß wir eine
Stunde nach der Ankunft im Grand Hotel einen Lunch serviert bekämen. Es war ein
Bankett: Roastbeef, Schinken, Käse, Obst, Wodka, ja sogar Kaviar. Wir stürzten
uns heißhungrig darüber her und stopften wahllos alles Erreichbare in uns
hinein, bis wir buchstäblich kein einziges Stör-Ei mehr schlucken konnten. Im
Hinausgehen fragte ich Molotschkow, für welche Zeit das Abendessen angesetzt
sei. »Abendessen? Wie — Abendessen wollen Sie auch noch?« Ich erklärte
entschuldigend, daß wir Kapitalisten die alberne Angewohnheit beibehalten
hätten, dreimal täglich zu essen. Molotschkow ließ den Hoteldirektor holen.
    »Wann
wird das Abendessen fertig sein?« fragte er düster. Der Hoteldirektor schnappte
nach Luft.
    »Abendessen!
Herr des Himmels! Sie haben soeben meine Rationen für die nächsten zwei Wochen
verschlungen!« Irgendwie schafften wir es trotzdem. Ein paar weitere Tage
lebten wir von Schwarzbrot, Kaffee und Zucker und den wenigen Kartoffeln, die
wir gegen Dollars auf dem Markt einhandelten.
    Und dann legte eines Tages im

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