Bärenmädchen (German Edition)
Tablett mit den Pralinen abzuschnallen. Das Mädchen tat es und stellte das Tablett auf den Beistelltisch. Immer noch um Strenge bemüht, erklärte der Räuberhauptmann dann in einem so harschen Ton, als würde er eine schwere Strafe anordnen, dass sich Anne bequem hinsetzen dürfe. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, griff er nach seiner beiseitegelegten Zeitschrift – anscheinend ein Fachmagazin für Sicherheitstechnik – und begann weiterzulesen.
Seine Erlaubnis sich bequem hinzusetzen, war natürlich ein wenig relativ, wenn man an Händen und Füßen gefesselt war. Vorsichtig und möglichst unauffällig, um den Räuberhauptmann nicht zu stören, rutschte und schob Anne ihre Gliedmaßen so lange herum, bis sie eine erträgliche Position gefunden hatte, bei der sie sich sogar ein wenig an den Sessel anlehnen konnte. Dann war sie es für eine Weile zufrieden, einfach nur bei ihm zu sein.
Wie friedlich und behaglich es in der Bibliothek doch zugehen konnte, und das bei all den Ungeheuerlichkeiten, die sich hier in Buchform zu Tausenden in den Regalen reihten. Zum ersten Mal auch war sie Adrian Götz so nah, ohne dass es um Gewalt und Schmerz ging. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd und Jeans. Seine Füße steckten in recht derben, dunkelbraunen, halbhohen Stiefeletten. Blundstone hieß diese Marke, fiel ihr jetzt wieder ein, und auch dass sie ziemlich angesagt war.
Das sah auf ziemlich coole Weise lässig aus, musste sie anerkennend zugeben. Der Herr Ex-Soldat weiß sich zu kleiden. Allerdings bemerkte sie amüsiert, dass er seinen Gürtel nicht durch alle Schlaufen der Hose gezogen hatte. „Aber Herr Räuberhauptmann, gibt es da keine kleine Sklavin, die ein wenig auf Ihr Äußeres achtet?, fragte sie sich und war, wie sie sich eingestehen musste, auch ein wenig erfreut über die Tatsache, dass es da anscheinend eine Lücke in seinem Leben gab.
Am nahsten war Anne in ihrer jetzigen Position seine rechte Hand. Wenn er sie nicht gerade zum Umblättern der Seiten nutzte, lag sie locker über der Armlehne des Sessels. Es war die Hand, an der Ring- und Mittelfinger fehlten. Zwei Stummel, die bis zum ersten Fingerglied reichten, kündeten von Blut, Attentat und einer kriegerischen Welt, die sie sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnte. Scheu schaute sie nach oben, auf die Narbe, die sein Gesicht zeichnete. Wie verletzlich die Menschen doch waren, sogar der stolze Krieger, der neben ihr saß.
Aber warum nur lag seine Hand so untätig auf der Armlehne des Sessels. Sie war ja völlig unterbeschäftigt mit dem Umblättern der Seiten , wo doch ein junges williges Mädchen in unmittelbarer Nachbarschaft nach ein wenig Zärtlichkeit schmachtete. Andererseits: Wenn diese störrische Hand nicht zu ihr kam, musste sie selbst vielleicht die Initiative ergreifen. So tat sie einfach, als würde sie weiterhin nach einer bequemen Stellung für sich suchen. Stück für Stück pirschte sie sich dabei näher an das Objekt ihrer Begierde heran.
Manchmal schielte sie nach oben in sein Gesicht. Er schien zu lesen, wenn sie auch das Gefühl hatte, dabei ein verstohlenes Grinsen zu sehen. Und dann – was für ein Zufall – war seine Hand nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sie musste ihren Kopf nur ein winziges bisschen nach vorne beugen, um sie mit ihren Lippen berühren zu können. Ganz vorsichtig, als wäre die Hand ein kleines Tier, das man allzu leicht verscheuchen könnte, tat sie es und hauchte ein paar Küsse auf die verstümmelten Finger. Als er sich nicht bewegte, küsste sie seine Hand intensiver, aber immer noch so sanft und zärtlich, wie sie nur konnte.
„Findest du die Stummel nicht abstoßend?“, fragte er da und seine Stimme klang seltsam belegt.
So vollkommen abwegig war seine Frage, dass sie ihren Kopf schüttelte, bis ihre braunen Haare flogen und das Glöckchen fast so laut erklang wie vorhin, als sie damit seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Aber es war schwierig, ihre Gefühle in Worte zu fassen, die nicht hölzern und pathetisch klangen. Schließlich sagte sie: „Das gehört für mich zu Ihnen, wie alles andere auch. Es macht sie aus, und…“, sie zögerte, „…und ich bin froh, dass sie es überlebt haben.“
Er legte den Kopf schief, zog eine Augenbraue hoch und schaute sie skeptisch an. Wie misstrauisch er war, wenn es um Gefühle ging, dachte sie jetzt etwas erschrocken. Schüchtern fragte sie ihn, ob sie wissen dürfe, wie es passiert sei, und da erzählte er ihr eine
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