Bärenmädchen (German Edition)
Mit ausdrucksloser Miene blätterte er darin herum. Ihr wurde unheimlich zumute. Was mochte darin zu finden sein? Unruhig begann sie, auf ihrem Stuhl hin und her zu zappeln. Ungewohnt war es, sich statt im „Sitz“ oder „Platz“ wieder frei und ungezwungen hinsetzen zu dürfen. Es war, als ob ihren Gliedern plötzlich ein Rahmen oder ein Halt fehlte. Aus Versehen schlug sie sogar ihre Beine übereinander.
„Sitz still und lass deine Beine mindestens eine Handbreit offen. Du darfst sie niemals überschlagen. Hat Madame Rüschenberg auch das nicht beigebracht? Und halt um Gottes Willen deine Oberlippe endlich still. Du machst mich ja ganz nervös.“, erklärte Abner unwirsch. Dann allerdings schlug er zu Annes Erleichterung freundlichere Töne an: „So, du hast also schon kräftig an Gewicht verloren? Hier steht, dass du fast fünf Kilo abgenommen hast. Bravo Glöckchen.“ Er erlaubte sich sogar ein Lächeln. „Und das trotz der üppigen Mahlzeiten beim alten Sieversen. Füttert er euch immer noch mit dem Nachtisch?“
Da sie nicht recht wusste, wie sie darauf antworten sollte, erklärte sie nur brav: „Ja Herr Dr. Abner, danke Herr Dr. Abner.“
Dann aber siegte doch ihre Neugier.
„Dürfte ich eine Frage stellen?“
„Sprich!“
„Wer ist Herr Sieversen? Warum lebt er dort so einsam in seinem Häuschen?“
Abner schien einen Augenblick zu schwanken, ob er antworten sollte. Dann erklärte er: „Es geht um ein Kapitel in der Geschichte der Organisation Magnus, das Attila von Ungruhe im Zofenkunde-Unterricht nicht behandelt. Friedrich Sieversen und Friedrich Magnus waren anfangs Partner, als die Organisation gegründet wurde. Aber Sieversen wollte einen anderen Weg einschlagen. Er wollte euch Betas viel härter und ohne einschränkende Regeln behandeln. Er wollte die Organisation aus der Legalität herausführen. Es kam zu einem Machtkampf, bei dem beide Seiten vor nichts zurückschreckten. Es war fast wie ein Bürgerkrieg. Sieversen hat ihn verloren.“
„Trotzdem darf er hier wohnen?“
„Friedrich Magnus war ein großzügiger Mensch. Er hat ihm verziehen. Manche vermuten sogar, dass sie Stiefbrüder waren. Aber darüber haben beide nie gesprochen. Außerdem hat sich Sieversen geändert, wie du vielleicht bemerkt hast. Trotzdem ist er immer noch ein ausgewiesener Meister in allen Spielarten unserer Passion. Er könnte Dinge mit dir anstellen, von denen selbst ich noch nie etwas gehört habe.“
Abner lächelte genießerisch. Er sah sie an, und Anne kam es vor, als betrachte er gerade ein leckeres Tortenstück. Eines, das nur darauf wartete, mit einer Kuchengabel in mundgerechte Stücke zerteilt zu werden. So war sie fast froh, als er etwas herablassend erklärte: „Mehr brauchst du über Sieversen nicht zu wissen. Das würde dich als Beta nur verwirren. Außerdem müssen wir jetzt über Ernsteres reden. Nämlich über dein Betragen als Zögling.“
Abner begann wieder, in ihrer Akte zu blättern. Anne sah, wie sich seine Miene mehr und mehr verdüsterte. „Dein eigenmächtiges Handeln auf dem Marsch zum Schloss hätte dich fast das Leben gekostet. Es war purer Zufall, dass Herr Götz rechtzeitig zur Stelle war, um den Bären zu erlegen.“
„Ja, Herr Dr. Abner. Es tut mir leid, Herr Dr. Abner.“
„Dann gibt es hier noch einen Eintrag, dass du draußen vor dem Schloss beim Üben der Zofenkommandos besonders undiszipliniert warst.“
Ehe sie ein zweites Mal um Verzeihung bitten konnte, fuhr Abner schon fort: „Desweiteren ist hier noch der Vorfall mit den Pralinen in der Bibliothek verzeichnet.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Das sind schwere Vergehen, Glöckchen, Du bist ja eine richtige Problemzofe, und das bei deinen Werten im Magnus-Test. Meiner Meinung nach gehörst du direkt in die Spezialausbildung.“
Anne erstarrte. Eisiger Schreck durchfuhr sie. „Das waren blöde Zufälle. Ich wollte das alles ja gar nicht“, stammelte sie.
„Weißt du, wie sich das anhört? Wie eine ganz schlechte Ausrede.“
Abner machte eine Pause, und Anne suchte verzweifelt nach Worten, um ihre Verfehlungen zu erklären, aber ihr Kopf war plötzlich völlig leer: Dann sprach Abner weiter: „Herr Rockenbach wird dir in der Spezialbehandlung jedwede Faulheit, Aufsässigkeit und Verfressenheit im Nu abgewöhnen. Du solltest mal sehen, wie schnell das geht. An das Leben als Stute wirst du dich schnell gewöhnen. Die meisten Betas können sich bald gar nichts anderes mehr vorstellen. Sie
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